Jeden Donnerstag ist bei uns Blattkritik, dann wird die letzte Ausgabe des Freitag einer kritischen Sichtung unterzogen. Entweder durch jemanden aus dem Haus oder durch externe Kritik. Neulich war Katja Kipping da. Ein kluger, offener Mensch. Hätte Kipping noch ein paar Prozent von Sahra Wagenknechts ebenso dunklem wie populistischem Charisma, die Linke bräuchte sich um ihre Zukunft keine Sorgen zu machen. Kipping kritisierte eine Äußerung aus dem Kommentar zur Not der SPD. „Es sind vor allem jüngere Akademiker, von denen viele Häuser oder Vermögen erben werden und die darum wenig akute Angst empfinden müssen vor der Mietmisere, der Rente oder dem Pflegenotstand“, hatte Christian Baron über die neue Mittelklasse geschrieben, die hegemonial geworden ist.
Kipping fand das blöd. Ungefähr so klischeehaft wie die sagenhaften Latte-macchiato-Mütter von Prenzlauer Berg. Als „Kosmopoliten“ werden die jungen Akademiker, von denen Baron sprach, im Moment ja gerade heftig kritisiert. Und zwar vor allem von Menschen, die, wenn sie nicht gerade Gauland heißen, selbst oft einem kosmopolitischen Lebensstil zuneigen. Macht das die Kritik falsch? Zweifelsohne muss nicht selbst auf Pflegekräfte angewiesen sein, wer sich für eine Politik starkmacht, die die Pflege stärkt. Man kann sogar Erbe sein und trotzdem für eine hohe Erbschaftsteuer eintreten, höre ich. Insgesamt bestimmt das Sein das Bewusstsein eben nicht ganz. Revolutionen wurden oft von Bürgerskindern getragen; Rosa Luxemburgs Vater war Hausbesitzer, Lenins Vater Schuldirektor. Die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen. Die Absenz von existenziellen Nöten macht den Kopf frei für allerlei Blödsinn, aber auch für die Not der anderen.
Die Kritik am Kosmopolitismus durch Kosmopoliten ist also einfach ein Stück Selbstkritik, getragen von der Ahnung, dass es da draußen noch eine andere Welt gibt. In Zeiten von verstärkter sozialer Segregation und forcierter Blasenbildung ist das ein erster Schritt, finde ich. Zudem bilden sich neue Solidaritäten aus. Wer über die Hälfte seines Nettoverdienstes für die Miete aufwenden muss, hat vielleicht keine „akuten Ängste“, aber er hat Sorgen und ist empfänglich für das Elend der anderen. Es braucht jetzt nur noch jemanden, der ihm dieses Elend näherbringt, es „übersetzt“. Im Journalismus kommt diese Aufgabe traditionell dem Reporter zu (den Beruf gibt es noch). Im akademischen Feld beschäftigt sich damit nicht zuletzt die Soziologie (Das Elend der Welt heißt ein Interviewband von Pierre Bourdieu aus den Banlieues von Paris). Und in der Politik? Wir haben dann mit Katja Kipping noch ein wenig über Populismus gesprochen. Ganz grundsätzlich war sie nicht dagegen.
Kommentarfunktion deaktiviert
Die Kommentarfunktion wurde für diesen Beitrag deaktiviert. Deshalb können Sie das Eingabefeld für Kommentare nicht sehen.