Der Dickbrettbohrer

Soziologie Zum 150. Geburtstag von Max Weber hat Jürgen Kaube eine sehr kluge Biografie vorgelegt
Ausgabe 04/2014

Es kommt selten vor, dass ein Leben, das zu einem Gutteil aus dem Wälzen von Textmassen besteht, zugleich den Stoff für ein Biopic abgibt. Nach der Lektüre des Buchs Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen wundert man sich, dass es „Max Weber – Der Film“ nicht längst gibt. Vielleicht ist er auch deshalb ein Desiderat, weil der erotische Kitzel, der einem solchen Vorhaben den Zugang zur Primetime öffnen würde, immer noch auf einem Gerücht basiert: Die Briefe zwischen Max Weber und seiner Geliebten Else von Richthofen sind nur in wenigen Auszügen publiziert. Es soll aus ihnen ein masochistisches Verlangen des Gelehrten sprechen.

Jürgen Kaube, der Autor der nun erschienenen Weber-Biografie, ist gegenüber solchen Deutungen skeptisch. Der Soziologe und Volkswirt, im Hauptberuf stellvertretender Ressortleiter Feuilleton bei der FAZ, kommentiert hier wie anderswo lakonisch: Wer in Formulierungen wie „Deine Zähne waren auf meinem rechten Arm noch zu sehen“ schon diese Neigung sehe, der habe die Lektüre der europäischen Liebesbriefliteratur noch vor sich.

Immerhin, die Intensität, mit der Weber sich in den Jahren vor seinem Tod im Juni 1920 in diese Beziehung stürzt, vom „Abfall der Masken“ spricht, steht in schroffem Gegensatz nicht nur zur Gefährtenehe mit Marianne Weber, die sich als Frauenrechtlerin einen Namen machen wird, sondern auch zum „männlichen Geist“, dem Weber sich verpflichtet fühlte.

Reizbar

Es sind die um 1900 noch wenig hinterfragten Werte der Askese und der Disziplin, der Sachlichkeit und Nüchternheit, die Weber hochhielt, gerade auch gegen die erhitzten, kryptoreligiösen Zeitströmungen. Man denke nur an die großen Reden Politik als Beruf und Wissenschaft als Beruf. Sein Credo hinderte ihn freilich nicht, Kollegen gegenüber reizbar und streitsüchtig zu sein, einige dieser Auseinandersetzungen wurden forschungsrelevant, der „Werturteilstreit“ etwa, der sich sage und schreibe von 1909 bis 1915 hinzog. Zugleich waren das aber auch „goldene Jahre“, wie Marianne Weber später schreiben wird. Man führte in Heidelberg ein geselliges Leben unter Akademikern, Weber war „nur“ noch Privatgelehrter, nachdem er 1903 seine (erste) Professur hatte aufgeben müssen. Eine Neurasthenie, so der damalige der Modebegriff, heute würde man vom „Burn-out-Syndrom“ sprechen, hatte den Arbeitswütigen arbeitsunfähig gemacht, er ging mit Marianne auf Reisen. Leider sind diese nur schlecht dokumentiert, das Buch wirft aber doch einige Schlaglichter, besonders hell leuchtet die Begegnung mit dem schwarzen Soziologen W.E.B. Du Bois in den USA.

Max Weber war kein Rassist, vor manchen Irrungen des Zeitgeistes blieb er stärker verschont als andere aus der deutschen Geisteselite, aber den chauvinistisch-aggressiven „Ideen von 1914“ verfiel auch er. Seine Einlassungen zu Heldentod und Ehre während des 1. Weltkrieges bilden den intellektuellen Tiefpunkt seiner Publizistik. „Der Nationalismus war die Art von Literatentum, die Weber sich zeitlebens genehmigte“, kommentiert Kaube spitz, denn als Literat verstand sich Weber so gar nicht, eine solche Titulierung hätte vermutlich die Aufforderung zum Duell nach sich gezogen.

Dabei ist der literarische Anteil im Denken des Soziologen nicht zu unterschlagen. Er zeigt sich auch im spannenden Kapitel über Weber und die russische Oktoberrevolution. Trotz seiner obsessiven Beschäftigung mit dem Kapitalismus war Weber nicht zum Marxisten geworden, und man könnte fragen, warum eigentlich nicht? Auch darum: „Keine der Vorhersagen des Kommunistischen Manifests hat für Weber Bestand. Die Verelendung der Massen ist nicht eingetreten. Monopolbildung im Unternehmenssektor, sofern sie überhaupt stattfindet, hat nicht mehr Proletarier, sondern mehr Angestellte zur Folge, weil die Monopole riesige Verwaltungen von Filialen und Subunternehmen sind. Die Angestellten aber (…) entwickelten ihrerseits ein ständisches Bewusstsein. Nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Herrschaft der Verwaltungsstäbe droht ...“

Aber erst einmal ist da die Revolution. Weber gab ihr wenig Kredit, hielt den Kommunismus jenseits kleiner Gemeinschaften für einen unwahrscheinlichen Fall und sah in Lenin einen „Literaten“, was so viel hieß, dass er ihm kein Organisationstalent zuschrieb. Ein Irrtum, denn vielmehr stellte sich Lenin das ganze Land als eine Organisation vor. Das ist zwar auch „eine Literatenfantasie“, wie Kaube maliziös anmerkt, allerdings eine „wirkungsvolle“ und schreckliche, denn wo Organisation das Ganze ist, ist Opposition keine Institution mehr. Man kann das Totalitarismus nennen, Kaube tut es nicht, verweist aber auf die verflixte Ähnlichkeit zu Webers eigener Vorstellung von Rationalität, er hätte bloß die fehlenden Erneuerungsimpulse moniert ...

Auf unsicherem Terrain

Max Weber war eben ein wandelnder Widerspruch. Kaube arbeitet diese Widersprüche scharf heraus. Als Leitfaden seiner Darstellung nimmt er einen Ausspruch von Weber selbst: „Ich bin ein Mitglied der bürgerlichen Klassen“. Der Plural ist kein Verschreiber: Weber bekundete solche Mitgliedschaft ökonomisch, er kam aus einem wohlhabenden Elternhaus, aber auch politisch, in der jungen Republik bewarb er sich sogar als Kandidat der Deutschen Demokratischen Partei für einen Sitz im Reichstag, und beruflich, als Akademiker.

Den größten Teil seines Lebens verbrachte Weber freilich im Kaiserreich, in dem das Bürgertum zahlenmäßig erstarkte, politisch und kulturell aber schwach blieb. Ironischerweise verdanken wir dieser Schwäche die Intensität seiner geistigen Arbeit: als anhaltender Prozess der Selbstvergewisserung auf unsicherem Terrain. Vieles hat sich überholt, aber bis heute wirkt Weber weit über die Grenzen der Fachsoziologie als Stichwortgeber in unseren Debatten: Entzauberung der Welt, Politik als das Bohren harter Bretter, der Unterschied von Gesinnungs- und Verantwortungsethik ...

Aber auch der Stil seines Denkens ist attraktiv geblieben. 1891 hatte Weber mit einer Arbeit über römische Agrarverhältnisse bei einem Nationalökonomen habilitiert, und auch seine erste große Studie zum Kapitalismus beschäftigte sich mit den Veränderungen im dritten Stand. „Die Industrialisierung studiert man am besten auf dem Lande“, resümiert Kaube. Eine Sache durch Fernliegendes zu erhellen, wird zu Webers Markenzeichen. Der Geist des Kapitalismus spricht auch in seiner berühmten Studie über die Protestantische Ethik eben nicht aus den Fabriken von Manchester, sondern aus den Zeugnissen von amerikanischen und angelsächsischen Puritanern. Ausgerechnet ein Leben in Gottesfurcht soll die mentalitätsgeschichtlichen Voraussetzungen für einen materialistischen Aufschwung sondersgleichen bereitet haben!

Eine steile These, tausendfach diskutiert, tausendfach relativiert. Schwer zu sagen, wie sehr die Dreifaltigkeit von fehlender Heilsgewissheit, harter Arbeit als Anzeichen göttlicher Gnade und Reichtum als Sünde die Historie erklärt. Kaube enthält sich eines finalen Urteils, aber betont ein persönliches Motiv. Zwar war die Zeit der protestantischen Sekten vorbei, aber Weber insistierte auf ihrem Vorbildcharakter. Dass die deutsche Nation nicht durch die „harte Schule des Asketentums“ gegangen ist, warf er nicht nur dieser vor, sondern auch sich selbst. Leben und Werk verschränken sich hier, Weber war besessen von einem Heldentum, das soziologisch gewendet als „charismatische Herrschaft“ einen privilegierten Platz im Spätwerk bekam.

Man lernt hier auch etwas über die Ambivalenzen des Denkens, denn der Ausbruch „aus dem stahlharten Gehäuse der Hörigkeit“, wie Weber die moderne, verwaltete Welt erschien, ist wiederum an eine charismatische „Gefolgschaft“ gebunden, die durch das Versprechen einer Erlösung vom „Alltag“ gedeckt wäre. Ein Versprechen, das der Theoretiker der ausdifferenzierten Wertsphären einstweilen nur in den Exilen des George-Kreises eingelöst sah. Dass dieser Kreis als Sekte zur Fußnote in seinem bekannten Werk Wirtschaft und Gesellschaft wurde, lässt erahnen, dass hier „mehr“ verhandelt wurde. Max Weber starb 1920, von Stalin und Hitler konnte er noch nichts wissen, aber er hatte im Vorgefühl gelebt, dass etwas „ganz Großes“ bevorstehe. Die Antworten, die Max Weber auf die Herausforderungen seiner Zeit gegeben hat, sind heute nicht wiederholbar, schließt Jürgen Kaube. „Der Sinn einer intellektuellen Biografie wäre aber erfüllt, wenn sich an ihr etwas über die Fragen lernen ließe“. Wir melden: Sinn erfüllt.

Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen Jürgen Kaube Rowohlt 2014, 496 S., 26,95 €

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Angele

Ressort Debatte

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hängte er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fussball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

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