Berlin, Januar 2005
Ich steckte seine Autobiographie Mein Leben in die Manteltasche, stieg in die U-Bahn und fuhr dem Haus entgegen, in dem Marcel Reich mit seinen Eltern bis 1938 gewohnt hatte.
«Wilmersdorf, Blissestraße, 53» hatte ich auf einen kleinen Zettel notiert. Ich lief die Blissestraße entlang, kam an den Eva-Lichtspielen vorbei, die es schon seit 1914 gibt und die in ihrer Reihe «der alte Deutsche Film» zeigen wollten, dass nicht nur Schund während des dritten Reichs gedreht wurde.
Die Straße stieg ein wenig an, es ging an Internetläden und Reisebüros vorbei und je näher die 53 kam, desto häufiger wurden die Geschäftsaufgaben, es war saukalt, ich hatte Grippe.
Da ein Laden: «Sprachen», Audio, Video, Buch. Der Laden war leer. Was für ein Sinnbild. Daneben ein Elektroladen, dessen Schaufenster so Mitleid erregend aussah, dass ich rein ging und eine 75-Watt Birne kaufte, für die ich keine Verwendung fand.
Endlich stand ich vor dem Haus in der Blissestraße 53, und mich fröstelte noch mehr, das sah ja aus wie aus der Nazizeit, diese kleinen Fenster, Blockwartstimmung. Ein mittelalterlicher Mann trat aus der Türe, Typ Rechtsanwalt mit Spiegel-Abo, und ich fragte ihn, ob er wisse, dass an dieser Adresse Marcel Reich-Ranicki gelebt habe. Seine Augen leuchteten, nein, das habe er gar nicht gewusst.
Das Haus hier könne es aber nicht sein, meinte der Antwalt, denn das sei erst 1940 gebaut worden. Also wurde das Haus, in dem Marcel Reich-Ranicki gewohnt hatte, kurz nach dem er aus der Stadt vertrieben wurde, abgerissen, was für eine Symbolik.
Nun wurde nach dem Krieg gelegentlich die Nummerierung einer Straße geändert. Aufs Katasteramt konnte ich am Samstag natürlich nicht. Aber am Montag sollte ja ein «Pressegespräch» mit ihm stattfinden. Ihn konnte ihn also selbst fragen.
Eine kleine Begegnung
«Was fragen Sie?» rief er.
Noch eingeschüchtert von den Generälen der Alliierten, die in dem Saal getagt hatten, hatte ich die Frage leise und undeutlich gestellt. «
"Wo soll ich gewohnt haben?"
"Blissestraße?"
"Nein, Güntzelstraße 53."
"Steht das Haus noch?"
"Das Haus steht noch."
"Waren sie nochmals da?"
"Ja, ich war in der Wohnung"
Soweit die einzigen Worte, die ich mit dem großen, vielleicht dem größten Literaturkritiker ever gewechselt habe.
Es war also alles falsch gewesen: keine einsamen Lichtspiele, keine leerer Bücherladen, kein längst verschwundenes Bildungsbürgertum, keine Naziabrisshohlbirne, nein, an dieser Stelle nicht. Ich hatte die falsche Adresse notiert.
Das "Pressegespräch" ging weiter. Die FU hatte ihm einen Ehrendoktor verliehen, es war sein siebter. Marcel Reich-Raniki sprach über seine Feinde, mit denen er sich ausnahmslos versöhnen würde, ja, auch mit Joachim Fest, aber der wolle ja nicht mit ihm, sprach über den jungen Lyriker Ostermaier, den er für ein sehr großes Talent halte, und über den Kritikerkollegen Baumgart, der ganz entsetzliche Romane schreibe, im Gegensatz zum jungen Schriftsteller Kehlmann, der ganz hervorragende schreibe. Über vieles mehr sprach er, er war fit und Teofila, seine Frau, saß auf dem Sofa, und es war gut.
Bücher, überall
Später wollte ich dann doch wissen, wie es in der Güntzelstraße 53 aussieht. An einem kalten Winderabend fuhr ich hin, kam an der Fleischerei Bachhuber und der Weinhandlung Buhm vorbei, und stand endlich vor der 53, einem hübschen Jugendstilbau.
Im Haus gleich daneben entdeckte ich die «Pension Finck. Fahrstuhl 3. Etage» (es gibt sie nicht mehr). Ich fuhr hoch quartierte mich ein, zog Mein Leben aus der Manteltasche und las darin:
1929 war Marcel Reich von Wloclawek an der Weichsel nach Berlin. 1938 wurde er nach Warschau deportiert. Mitnehmen durfte er ein einziges Buch, Die dreißigjährige Frau von Balzac, ein Buch, das ihn auch noch langweilte.
Bücher waren es, die diese neun Berliner Jahre prägten. Kaum eine Seite aus den Berlin-Passagen in dieser enorm erfogreichen Autobiographie, die nicht auch von ihnen handelten. Er bekommt sie von Bekannten, die emigrieren, er bespricht sie mit einem Lehrer, der kein Nazi ist, er holt sie aus den Stadtbibliotheken in Schöneberg und Wilmersdorf.
Bis zuletzt sind Bücher für Marcel Reich-Ranicki existenziell wichtig geblieben. Er lebte in, mit, auf und unter ihnen. Die guten lobte er in den Himmel, die schlechten wünschte er in die Hölle. Man las seine Kritiken gerne, aber fast noch lieber schaute man ihm im Literarischen Quartett im ZDF zu, das er bis 2001, in insgesamt 385 Folgen bestritt. Hier wurden seine Leidenschaft für Bücher sinnlich. Aber für viele, die ihm zuschauten, hatten sie schon nicht mehr diese Bedeutung.
Für ihn waren Schriftsteller eminent wichtige Menschen. Für die Gesellschaft sind sie es immer weniger.
Er war der letzte seiner Art.
Ausführlicher Nachruf folgt
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