Eine Ahnung, wie es kommen könnte, wenn das Zeitalter der Zeitung irgend einmal ungünstig zu Ende geht, bekommt, wer in Berlin ins Romanische Café geht, oder besser in das, was sich heute Romanisches Café nennt. Das alte Romanische Café lag an der Gedächtniskirche, vor hundert Jahren verkehrten dort Gottfried Benn, Else Lasker-Schüler, Otto Dix, Irmgard Keun, die Berliner Kaffeehausintelligenz. Das, wie man hier getrost sagen kann, sogenannte Romanische Café, will an diese Tradition anknüpfen, es liegt unweit des historischen Cafés im Erdgeschoss eines Hochhauses, des Zoofensters. Über dem Café residiert das Waldorf Astoria, ein Hotel, das man aus New York kennt.
Ich verbinde mit seinem Namen die Erinnerung an die zweite Frau meines Großvaters, die in den fünfziger Jahren an der Kasse des Waldorf Astoria gearbeitet hatte, bevor sie in die Schweiz zurückkehrte, wo sie meinen Großvater heiratete. Trotz ihrer New-York-Erfahrung war diese Tante K. eine übertrieben reinliche Frau, die ihre Sitzgruppe mit Bettlaken abdeckte, wenn wir sie in ihrem kleinen Haus auf dem Berg besuchten. Aber sie rauchte, und sie sprach von den „boys“, und wenn sie Fotos von uns machte, nie spontane Aufnahmen, immer Gruppenbilder, dann sagte sie, die sonst Schweizerdeutsch sprach, zu uns, die wir diese Aufnahmen hassten, „come on, smile, boys“.
Daran denke ich, wenn ich an das Waldorf Astoria denke, aber nichts von diesem Zauber wohnt dem Waldorf Astoria in Berlin inne, nichts dem Romanischen Café unter diesem Hotel, das nur den Namen mit dem alten Romanischen Café teilt. Gut, neben dem Eingang steht ein Zeitungsständer, an dem zwei traurige Ausgaben des Tagesspiegel hingen, als ich es ein einziges Mal betrat. Ich schnappte mir einen der beiden Tagesspiegel und fühlte mich sofort verdächtig. Außer mir gab es keine weiteren Zeitungsleser, dafür jede Menge falschen Marmor (oder auch echten, ich kenne mich da nicht aus); und wäre eines der Kuchenstücke, die man sich an der langen Vitrine aussuchen kann, auf den Boden gefallen, hätte man es aufheben und bedenkenlos essen können. Aber im sogenannten Romanischen Café fällt kein Kuchenstück auf den Boden.
Touristenfalle
Der Kellner ähnelte dem Komiker Kurt Krömer. Ich fragte mich, ob er sich dieser Ähnlichkeit bewusst war, und fühlte mich noch verdächtiger. Obwohl ich eigentlich einen Kaffee trinken wollte, bestellte ich Darjeeling-Tee, und zwar nicht einfach eine Tasse, sondern gleich ein Kännchen, so als müsste ich mich für meine Anwesenheit und meine stumme Renitenz selbst bestrafen. Dann versuchte ich, im Tagesspiegel eine Geschichte über die Gasversorgung in Berlin zu lesen, aber es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren, die Gasversorgung in Berlin ist eine vertrackte Sache.
Früher hätte ich nun eine geraucht, und ich erinnere mich, wie sich Tante K. freute, wenn sie mich rauchen sah, und noch als ich sie im Altersheim besuchte und sie schon ordentlich durch den Wind war, fragte sie mich, ob ich denn immer noch rauchte, und obwohl ich es da längst aufgegeben hatte, sagte ich, ja, Tante, ich rauche immer noch, allerdings light.
Obwohl ich das Rauchen also vor Jahren aufgegeben habe, würde es mich freuen, wenn man im Romanischen Café rauchen dürfte. Man darf natürlich nicht. Theoretisch darf man immerhin Bücher lesen, in den Regalen zwischen den großen Fenstern liegen coffee-table books, die vermutlich noch nie in die Hand genommen wurden. Vielleicht ginge sogar die Alarmanlage an, wenn man so ein Buch packte. Ein Fresko an der Decke zeigt, wie man sich das Café vorzustellen hat: mondäne Männer mit Krawatten und Scheiteln im Gespräch mit mondänen Frauen mit Hüten und, wie ein Hohn auf das Rauchverbot, Slim-Zigaretten.
Der Blick geht aus einem großen Fenster auf das Bikini-Haus, einen eleganten, langgezogenen Bau aus den fünfziger Jahren, der komplett renoviert und vor noch nicht so langer Zeit wiedereröffnet wurde. Im Inneren dominiert der Vintage-Stil, an der Fassade steht: „Shop different. Berlin’s new concept mall“. Ladenpassagen sind eine Sache, Ladenpassagen, die sich „concept mall“ nennen, eine andere. Mit den Ladenpassagen habe ich meinen Frieden geschlossen, aber in einer Welt, in der Ladenpassagen „concept malls“ heißen, möchte ich nicht leben.
Nun wird man einwenden, dass das Romanische Café eine Touristenfalle ist und man von solchen Touristenfallen auf nichts schließen kann, weil sie exakt das nicht sind, was sie vortäuschen: ein Ort voller Geist und Geschmack.
Aber das wäre zu einfach, denn ich konnte in dieser Touristenfalle keine Touristen entdecken. Tatsächlich trank eine alte Frau in sich versunken ihren Tee unter dem Fresko, und die wenigen anderen Gäste schienen mir auch eher eingesessene Westberliner zu sein.
Der Grund, es sich mit der Kritik nicht zu einfach zu machen, liegt also in den Menschen im Romanischen Café, die interessanter sind als der belanglose Ort, an dem sie sich befinden. Es gibt solche Menschen an fast jedem Ort, und sei er noch so trostlos, in jedem Backshop und in jeder Mall in jeder Stadt dieses Landes, sie führen einen stillen, ihnen selbst vielleicht gar nicht bewussten Kampf gegen die Würdelosigkeit ihrer Umgebung, und manchmal lesen sie dabei auch eine Zeitung. Können sie nicht einfach aufhören zu kämpfen? Nein, denn im Gegensatz zu den Orten, an denen sie sind, haben sie eine Geschichte.
In meinem Rücken unterhielten sich zwei ältere Damen. Ich schnappte das Wort „Gamaschen“ auf. Es ging um eine Freundin, die noch in ihrem Haus wohnt, aber ins Heim gehen sollte, und diesen Schritt wie alle alten Menschen, die zu Hause wohnen, aber ins Heim gehen sollten, hinauszögert. Irgendeinmal fielen die Wörter Die Ringe des Saturn, die beiden Damen mussten über den Schriftsteller W. G. Sebald gesprochen haben, der einen Roman mit diesem Titel geschrieben hat, allerdings erschloss sich mir der Zusammenhang nicht.
Als dann von einer Perserin die Rede war, musste ich an die Perserin in Thomas Bernhards Erzählung Ja denken. Gemeint war aber die Frau eines Chefarztes, die neulich im Garten stand und von der Frau, die im Romanischen Café das Wort hatte, kaum wiedererkannt worden sei. Die Perserin habe alt ausgesehen, sagte die Frau, sei in Wahrheit aber bestimmt zehn Jahre jünger als sie selbst. Da siehst du, wie gut ich mich gehalten habe, wollte sie also eigentlich sagen.
Während das Gespräch zu einer Augenkrankheit überging, die Rede war von einem „vorgeschädigten Auge“, ein Ausdruck, den ich noch nie gehört hatte, tat ich so, als würde ich zeitungslesen. Zeitungslesen ist eine hervorragende Tarnung für den Menschenbeobachter, man kann sich kaum besser tarnen, als sich hinter einer Zeitung zu verstecken und den Zeitungsleser zu mimen, man kann dabei sogar notieren, was man gehört hat, der andere glaubt ja, dass man eine interessante Stelle aus dem Zeitungsartikel abschreibt, wenn er sich überhaupt etwas dabei denkt. Auch diesen Vorteil könnte man zur Rettung der Zeitung anführen, aber dazu müsste erst der Sinn fürs Menschenbeobachten wieder gestärkt werden, am besten schon in der Schule.
Spöttisches Lächeln
Dann aber nahmen die Dinge im Romanischen Café eine Wendung. Der zweite Tagesspiegel wurde von einer Frau vom Ständer gegriffen, die sich damit an einen Tisch am Fenster setzte, wo ihr Begleiter saß, vielleicht ihr Mann, es war nicht ganz klar. Jedenfalls kam er mir bekannt vor, es schien mir, als hätte ich ihn vor ein paar Jahren öfter in den Talkshows gesehen. Er war etwa sechzig Jahre alt, hatte noch relativ volles, weißes Haar und einen großen, länglichen Kopf, der ihm etwas Kindisches verlieh, das durch ein spöttisches Lächeln zugleich abgeschwächt und betont wurde. Auf den Namen kam ich nicht.
Woher kannte ich bloß dieses Gesicht? An das Zeitungslesen war nicht mehr zu denken. Ich musste das Café verlassen.
Später kam ich drauf, der Mann im Romanischen Café war Werner Müller. Ich ergoogelte ihn: ehemaliger Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, heute im Vorstand der Deutschen Bahn sowie im Vorstand von weiteren Unternehmen, kein Mitglied der SPD, sondern parteilos, von Schröder ernannt. Mit seinem süffisanten Lächeln hatte er die kleinen Passagen quittiert, die ihm seine Begleiterin, vielleicht seine Frau, aus dem Tagesspiegel vorlas. Genauer gesagt hatte sie ihm nicht aus dem Tagesspiegel selbst vorgelesen, sondern aus dessen Beilage zur Fußballweltmeisterschaft, die von den 11 Freunden verantwortet wurde.
Die beiden machten einen zufriedenen Eindruck. Was können zwei Menschen, die lange zusammen sind, sagen wir Eheleute, Schöneres machen, als in ein Café zu gehen, um die Zeitung zu lesen und sich ein wenig daraus vorzulesen? Zur Not ist das sogar im Romanischen Café möglich, auch wenn hier nichts an jene betörende Szene aus Christoph Meckels Erzählung Licht erinnert, in der zwei Liebende vor einem Café an einer staubigen Küstenstraße die Zeitung lesen, sie lesen sie im heißen Wind, der die Seiten flattern lässt, bis die Zeitung wegfliegt und die Frau ihr nachrennt.
Buchinfo
Der vorliegende Text ist ein Auszug aus dem Buch Der letzte Zeitungsleser, es erscheint am 11. August im Galiani-Verlag, hat 160 Seiten und kostet 16 Euro
Kommentare 10
Die Tablets und sonstigen mobilen Endgeräte dürften in den hiesigen Regionalzügen (Hannover/Cuxhaven) mittlerweile deutlich in der Überzahl sein. Aber es raschelt noch allenthalben - und manche Leser werfen ihr Blatt beim Aussteigen nicht in den Papierkorb, sondern lassen es ordentlich zusammengefaltet für weitere Interessenten liegen.
Auch diese Art freundlicher people-to-people service geht mit der Digitalisierung flöten.
Nee,ich lasse meine gesammelten Werke immer liegen auch wenn das Publikum nicht nach Zeitung aussieht.Ich sage mal so,die Hoffnung stirbt zuletzt.
Ich hab denBericht beim mdr gern gesehen. http://www.mdr.de/kultur/radio-tv/artour/artour-alle-themen-146.html
Es eilt die Zeit, wir eilen mit,
da gabe es sogar eine Zeit
ohne Zeitungen,
dafür gab es Boten zu Pferde
und Kutschen
eine andere perspektive eröffnet folgender nach-kriegs-witz:
ein kaffee-haus-besucher erbittet von der bedienung: die neueste ausgabe des "völkischen beobachters". dieser darauf:
das ist schon die dritte woche, daß ich ihnen sage:
den "völkischen beobachter gibts nicht mehr!-
" ja schon, aber ich hörs so gerne!"
Sie irren ein wenig, Heinz. Seit es Boten und Kutschen in größerer Zahl gibt, existieren auch die ersten Zeitungen: "X- Anzeiger, Y- Bote, Z- Kurier ", u. ä. Die Verbreitungstechnik (Mobilität) und die Möglichkeit zu drucken, gingen eine innige Verbindung ein. "Haben sie neue Zeitung?" stand für "Haben sie neue Nachricht?"
Streng unterschieden wurde erstmals zwischen privat und öffentlich.
Manche tragen daher am Beginn auch Namen wie, "Beobachter", "Begleiter", gar "Einkommende Zeitung", also Nachricht, die es, in diesem Falle, bis Leipzig geschafft hat.
Die Zeitung hatte personal aktivistische Qualität, war Ersatz- Beobachter, Ersatz- Anwesender, für alle die das nicht konnten.
Der zweite, vielleicht erst dritte oder n-te Schritt, führte dann zum Meinungsblatt, zum Beipiel zur Spätform dF.
Gutes Wochenende
Christoph Leusch
Ws in der Zeitung schwarz auf weiß (manchmal auch farbig) gedruckt wird, ist raus, kann nicht mehr geändert werden. Das und noch einiges mehr, hat die Zeitung dem digitalen Produkt voraus. Auch dem Buch ist vor einigen Jahren der Tod prognostiziert worden; es ist aber nicht eingetreten.
Falls die Zeitungen wieder zur Qualität, ihrem journalistischen Anspruch gerecht werden, dann ist zumindest die Wochenzeitung eine Bank, auf die ich "setzen würde". Denn mit ein wenig Abstand und Reflexion - und die braucht das Denken -, lässt sich allemal noch eine Leserschaft erhalten.
Und ich zähle mich zu denen, die alle Medien nutzen, mit einer Ausnahme. Denn von unterwegs muss ich kein Onlinebanking betreiben, geschweige chatten, wo ich bin, was ich mache und wohin ich gehe: einfach nur infantil.
Der letzte Fußgänger (Ehrenfried Muthesius) und der letzte Zeitungsleser, sie gehören wahrscheinlich zusammen. Wenn bald überall nur noch E- Bikes und Stehroller vor den Fassaden parken, sind diese alten Seinsarten, selbst beim älteren Publikum, völlig out.
Ich war noch nie im neuen Romanischen, aber ihre Beschreibung bringt mich auch nicht in Versuchung, dort, das Blättchen lesend, aufzufallen.
Waldorf- Astoria klingt und klingelt, und ich traue dem Bimbam nicht. Sicher ist, dass das heute kein Treff der Berliner Intellektuellen und Künstler, sowie jener, die sie vom Nebentisch aus, einmal beäugen und ein bisschen belauschen wollen, sein kann. Diese scheuen Rehe und Hirsche zogen sich einst, so bedrängt, zurück. Mit Koeppen und Schebera kann man, wenn man will, auf Entdeckungsreise zu einem durchaus qualmwolkigen, vergangenen Traumreich gehen, in dem es, mehrfach am Tag, Zeitungsausgaben an Haken und Stock gab.
Mit dem letzten Zeitungsleser und dem letzten Fußgänger ist wohl auch eine andere Figur der mehr oder weniger lesenden Cafés untergegangen, der Schnorrer (John Höxter, Jörg Aufenanger).
Vielleicht geht es den Gästen des Waldorf- Astoria und des neuesten romanischen Cafés zu gut? Da drängt zu wenig, da ist alles zu sehr situiert, um den Ort zur nötigen Wärmestube, zum Kontakthof zu machen, ohne den es einfach nur noch abwärts geht.
Gutes Wochenende
Christoph Leusch
Schon Goethe schrieb:
"Es irrt der Mensch, solang er strebt."
Genau darin liegt die Veränderung,
die auch an einem Café nicht vorbei geht,
mag es auch noch so nostalgisch ausschauen.