Die Augstein-Broder-Debatte deprimiert mich

Fragen Viele kluge Leute machen leider noch keine gescheite Debatte. Ein kleiner Hilferuf

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Ich weiß nicht, was Jürgen Habermas zu dieser Debatte sagt. Aber für den Theoretiker des herrschaftsfreien Diskurses und der kommunikativen Vernunft muss sie der reinste Albtraum sein. Diese Debatte ist das schiere Gegenteil von einem echten Streitgespräch, in dem sich Kontrahenten mit unterschiedlichen Positionen argumentativ austauschen und dann auch mal ein wenig klüger nach Hause gehen.

Natürlich sind solche Vorstellungen immer auch etwas naiv, oder sagen wir freundlicher: von einem Ideal geprägt (gab es denn auch nur eine einzige "Debatte", die ihm gerecht wurde?), denn in Debatten geht eben immer auch viel um Macht und Strategie und ums Rechthaben. Vielleicht sind sie ja auch einfach nur um ihrer selbst willen da. Aber dann bitte nicht so.

Ich sehe in dieser Debatte in der Öffentlichkeit keinen einzigen Mitstreiter, der sich von einem, auch nur einem besseren Argument hat überzeugen lassen und das auch mal zugäbe. Wirklich: Keinen. Und das ist dumm.

Projektionen

Die Debatte erinnert an einen erbitterten Ehestreit, in dem die Partner noch nicht einmal verheiratet sind. Absurd. Und bestimmt erinnert sie nicht nur mich daran. Dabei sind doch so viele kluge und verständige Leute an ihr beteiligt. Leute, die sofort zugeben können, dass etwas schief läuft. Grundsätzlich und seit langem. Die, debattierend, von der Debatte ebenfalls abestoßen sind. Leute wie Malte Lehming vielleicht. Der schreibt im Tagesspiegel: "Die Antisemitismusdebatte blüht und gedeiht durch Projektionen."

Vollkommen richtig. Wer würde diesem Befund nicht zustimmen? Lehmings Beispiel ist ein Passus aus einer Spiegel-Kolumne von Jakob Augstein:

"'Mit der ganzen Rückendeckung aus den USA, wo ein Präsident sich vor den Wahlen immer noch die Unterstützung der jüdischen Lobbygruppen sichern muss, und aus Deutschland, wo Geschichtsbewältigung inzwischen eine militärische Komponente hat, führt die Regierung Netanjahu die ganze Welt am Gängelband eines anschwellenden Kriegsgesangs.' Das heißt übersetzt: Israel will in einen Krieg ziehen und bedient sich dazu der jüdischen Lobby in Amerika und instrumentalisiert das deutsche schlechte Gewissen wegen des Holocausts.' Ist es wirklich so schwer, in dieser Formulierung den Topos einer finsteren Verschwörung zu erkennen?"


Ja, dieser finstere antisemitische Topos steckt in der Formulierung drin. Zweifellos. Aber in der Passage steckt auch die nüchterne Frage, ob die rechte israelische Regierung nicht vielleicht doch auch auf das in der Politik nicht ganz unübliche Mittel der Erpressung zurückgreift. Nicht gegenüber der "ganzen Welt" , das ist in der Tat ein übles verschwörungstheoretisches Bild, wie man es aus den Protokollen der Weisen von Zion kennt, aber erpresserisch zum Beispiel gegenüber der US-amerikanischen Regierung und ein klein wenig vielleicht auch gegenüber der deutschen.

Ranking der dümmsten Debatten

Welche Projektionen meint Lehming also? Nur die einen? Darüber muss man doch reden können. Über beides muss man reden können. Über die Verschwörungsfantasie und über den vielleicht nicht ganz verkehrten politischen Verdacht. Vielleicht zuerst: ein- und dieselbe Person muss darüber reden können. Das heißt: sie muss sich in Gedanken damit auseinander setzen. Muss darüber nachdenken. In Erwägung ziehen. Als Möglichkeit zulassen. Vermutlich tut sie es in vielen Fällen auch. Für sich.

Und eben dann nicht in der "Debatte". Viele Menschen mit klugen Gedanken geben in der Summe eben noch keine vernünftige Debatte.

Und wenn es ein Ranking der dümmsten Debatten gäbe, dann stünde diese ganz oben (knapp gefolgt von der um "political correctness"). Da gibt es nur das Entweder und das Oder. Kein Sowohl-als-Auch. Keine Zweifel. Kein Nichtwissen, das schon gleich gar nicht. Lauter "Nahost-Experten", soweit das Auge in der Blogosphäre und im bezahlten Journalismus reicht.

Es ist zum Davonlaufen. Warum ist das so? Ich verstehe es nicht. Wirklich nicht. Vielleicht sollte man die Frage nicht an einen Theoretiker der kommunikativen Vernunft stellen, sondern wirklich an einen Ehe-Therapeuten, vulgo: einen Psychoanalytiker. Aber auch das ist ja eigentlich bekannt. (Und das man vielleicht nicht auch noch seinen Senf dazu geben muss. In diesem Sinne: sorry.)


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Geschrieben von

Michael Angele

Ressortleiter „Debatte“

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hing er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fußball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

Michael Angele

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