Garantiert kitschfrei

Literatur Peter Wyden erzählt in „Stella Goldschlag“ von der Auslöschung der Berliner Juden
Ausgabe 14/2019
Stella Kübler, geborene Goldschlag, 1957 vor Gericht
Stella Kübler, geborene Goldschlag, 1957 vor Gericht

Foto: Zuma/Keystone/Imago

Wer über eine Figur der Zeitgeschichte erst das Sachbuch und dann den Roman liest, tut das mit der Frage: Was könnte mir der Roman klar machen, was das Sachbuch nicht kann? Zugegeben, im Fall von Stella Goldschlag ist eine unvoreingenommene Lektüre für jeden schwierig, der das Gewese um Takis Würgers Roman Stella zur Kenntnis genommen hat (der Freitag 3/2019). Aber was heißt hier Roman und was Sachbuch? Würgers Roman bekundet seinen dokumentarischen Einschlag nicht nur durch ein Foto der Goldschlag auf dem Cover, sondern auch durch eine Notiz vor seinem Beginn: „Teile dieser Geschichte sind wahr“. Das belegen die eingestreuten Auszüge aus den Prozessakten des Sowjetischen Militärtribunals gegen Stella, und ein Quellenverzeichnis, in dem sich auch Peter Wydens Buch von 1992 findet, es ist das einzige Werk zu Stella selbst. Der Steidl Verlag hat es nun neu herausgegeben.

Schreckliches, schönes Paar

Es ist nicht so, dass Wyden die Motive restlos erhellen kann, welche die kaum erwachsene Stella Goldschlag zur „Greiferin“ werden ließ, die vermutlich Hunderte von Berliner Juden an die Gestapo auslieferte. Unstrittig ist, dass sie mit ihrer Kollaboration die Eltern vor der Deportation ins KZ bewahren wollte. Das gelang ihr bis Februar 1944 auch. Dann aber teilte ihr der Kriminalobersekretär Walter Dobberke mit, er könne die Eltern nun nicht länger von der Liste ausnehmen, sie würden aber nach Theresienstadt kommen, nicht nach Auschwitz (wo sie dann im Herbst 44 vergast wurden). Stella machte weiter. Gewiss um selbst verschont zu bleiben, dabei entwickelte sie allerdings mit ihrem Geliebten Rolf Isaaksohn einen solchen Eifer, dass man weitere Motive unterstellen muss. Der Ruf des schrecklichen, „schönen Paars“ war jedem „U-Boot“ bekannt, wie die letzten, untergetauchten Juden genannt wurden.

Auch das „Sachbuch“ erzählt natürlich. Zuerst ist da Wydens eigene Erzählung. In seiner Geburtsstadt Berlin hatte er, der damals Peter Weidenreich hieß, für Stella aus der Ferne geschmachtet, beide besuchten die Goldschmidt-Schule in Wilmersdorf; zur Obsession wird die Frau für ihn, als er 1946 als GI und Journalist nach Berlin kommt und in der Zeitung vom Prozess gegen Stella liest. Jahrzehntelang befragt er nun Überlebende, befragt auch Stellas unglückliche Tochter Yvonne, die als Krankenschwester in Israel lebt. Zuletzt erzählt Stella ihm ihre Version der Geschichte (nicht). Wyden gelingt es, Stella Goldschlag in Freiburg zu besuchen, wo sie nach dem Tod ihres fünften und letzten Ehemanns völlig zurückgezogen lebt. Über ihre Untaten kann sie nur „Lügen“ wiederholen.

So viele Geschichten, alle so viel interessanter als die jenes Ich-Erzählers im Roman von Würger, eines Schweizers, der 1942 nach Berlin reist, um – ja, was eigentlich? – jedenfalls als Farbenblinder (!!!) in einer „Zeichenschule“ zu landen, wo ihn das Modell „Kristin“ verführt, die sich natürlich als Stella entpuppt. Dieses Detail hatte Würger aus Wydens Buch. Stella Goldschlag hatte in einer Kunstschule in der Nürnberger Strasse als Aktmodell etwas Geld verdient, und auch ihre Begeisterung für „Jatz“ (Jazz), die im Roman eine wichtige Rolle spielen sollte, ist dokumentiert. Schließlich spießt der Roman in wenigen Worten das Milieu auf, in dem Stella groß wurde: das gutbürgerliche Westberliner Judentum, das sich assimiliert glaubte, ja sich wie Stella kaum noch als Juden verstand. Umso mehr sah sie sich durch die Verfolgung der Juden um eine glänzende Karriere betrogen, und sie entwickelte einen Antisemitismus, der umso giftiger gewirkt haben mag, als sich der Ehrgeiz auch am bescheidenen Elternhaus rieb, der Vater war Komponist.

Aber Realien sind bei Würger, die Kritik hat es beklagt, nicht mehr als Staffage für eine Liebesgeschichte, von der man weder sagen kann, sie sei durch Wydens „wahre Geschichte“ gedeckt, noch dass sie es nicht sei. Auch was Wyden von der Liebe erzählt, ist ja, was Mann und Frau sich über Stella G. erzählt hat; die Erzählungen zeichnen das Bild einer sexuell aktiven, raffinierten, regelrecht die Männer um den Finger wickelnden Frau. Das muss nicht „wahr“ sein, legendbildende Kraft hatte dieses Bild, im Zusammenhang mit der realen Bedrohung, die von ihr ausging, aber schon. Dagegen steht Würgers recht keusche Gesichte einer Romanze im Nazi-Berlin, der man einen Lesegenuss abgewinnen mag oder nicht. Warum hier dem Sachbuch der Vorzug gegeben wird, liegt aber nicht im Versuch, das „Unerzählbare zu erzählen“ (Daniel Kehlmann über Stella).

Würgers Kreativkurskram

Es liegt noch nicht einmal ganz in der Figur Stella Goldschlag. Es liegt in dem, was man Kontext nennt. Dieser Kontext wird im Roman mit einem Kniff herbeizitiert, am Anfang eines Kapitels werden ausgewählte disparate und doch sprechende historische Fakten genannt, dabei immer mit von der Partie Zitate von Joseph Goebbels, sowie die Geburt einer späteren Figur der Zeitgeschichte, Kreativschreibkurskram halt, während der Kontext bei Peter Wyden an die schrittweise Auslöschung des Berliner Judentums erinnert. Der größte Teil des Buches handelt ja gar nicht von Stella Goldschlag, sondern von Menschen wie Walter Dobberke, aber auch von Hertha Eichelhardt Wolf, einer Christin, die Stella wieder auf den rechten Weg bringen will, und natürlich von den 66 Überlebenden, mit denen Wyden für sein Buch gesprochen hat, und es handelt von den Schauplätzen wie dem jüdischen Altersheim in der Großen Hamburger Strasse 26 oder dem Jüdischen Krankenhaus in der Schulstraße 79, wo die allerletzten ihrer Deportation entgegendämmerten, und auch Stella ihr Quartier bezog. Auch wer Würgers Roman schon gelesen hat, sollte also Wydens Buch lesen.

Info

Stella Goldschlag. Eine wahre Geschichte Peter Wyden Ilse Strasman (Übers.) Steidl 2019, 384 S., 20 €

Die besten Blätter für den Herbst

Lesen Sie den Freitag und den neuen Roman "Eigentum" von Wolf Haas

Geschrieben von

Michael Angele

Ressortleiter „Debatte“

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hing er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fußball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

Michael Angele

Wissen, wie sich die Welt verändert. Abonnieren Sie den Freitag jetzt zum Probepreis und erhalten Sie den Roman “Eigentum” von Bestseller-Autor Wolf Haas als Geschenk dazu.

Gedruckt

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt sichern

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden