Die große Sehnsucht nach der Arbeiterklasse

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Gelegentlich kaufe ich mir die B.Z. , "Berlins größte Zeitung", um wie man sagt, dem Volk ein wenig aufs Maul zu schauen. Letzten Donnerstag nun erschien die ganze Ausgabe "uff Berlinerisch“ (natürlich nicht alles; die Werbung blieb hochdeutsch, wie gleich mit Kennermiene bemerkt wurde: Die Werbung nicht!) Das las sich dann so: "Lichtnberch is kulturell unatschätzt Aba dit ändert sich. Ick bin neujierich uff de Kulturlandschaft von Bezirk".

Soweit der Kulturstaatsminister André Schmitz über das kulturelle Schicksal von Berlin-Lichtenberg auf den "Kultua-Seiten" von "die B.Z.". Aber nur dort, denn Schmitz ist in Oberhausen geboren, in Hamburg zur Schule gegangen, und erst in den 90er Jahren nach Berlin gekommen. Er berlinert nicht.

Schmitz also nicht. Aber dann fiel mir Thomas Flierl ein, sein Vorgänger. Auch er ein Intellektueller. Und in Ost-Berlin geboren. Ich bin mir gerade nicht sicher, ob er berlinert. Jedenfalls tut es seine kluge Schwester, mit der ich einmal zusammengearbeitet habe. Sollte Flierl dialektfrei sprechen, bildete er allerdings eine Ausnahme. Während es bei den aus Westberlin stammenden Intellektuellen und Bildungsbürgern nicht eben schick ist, seine Herkunft durch die Sprechweise zu signalisieren, gilt die Mundart unter Ostberliner Intellektuellen, Schriftstellern, Künstlern offenbar gerade zu als Adelsprädikat. Angefangen von Gregor Gysi und Rainer Eppelmann über Alexander Osang und Jürgen Kuttner bis zu Jochen Schmidt und Ahne – bei aller Verschiedenheit eint diese Personen, dass sie berlinern, was das Zeugs hält.

Wie kommt das? Meine Theorie: Im Icke-dicke-uffe der Ostberliner Intellektuellen drückt sich weniger gelebte Volksnähe, als mehr eine große Sehnsucht aus: Die Sehnsucht nach der – de facto gekappten – Verbindung zur Arbeiterklasse. Man könnte sagen, das Berlinern stellt die phantasmagorische Beziehung des Intellektuellen zum verschwundenen Subjekt der Geschichte her. Es ist der utopische Platzhalter der Revolutionen, die (nicht) gekommen sein werden. Oder nochmal anders gesagt: In der Berliner Mundart überwintert Gramscis "organischer Intellektueller". Alles klärchen? Vermutlich nicht ganz. Aber das hier sind ja auch nicht die Kulturseiten der B.Z.

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Geschrieben von

Michael Angele

Ressortleiter „Debatte“

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hing er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fußball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

Michael Angele

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