Bei Bowie war es anders, Bowie war nie weg. Aber an Muhammad Ali hatte ich seit Jahren nicht mehr gedacht. Davor hatte ich mich lange Zeit null mit Lemmy Kilmister beschäftigt. Prince, auch er war aus meinem Kopf (und meinem MP3-Player) verschwunden. Und dann sind sie plötzlich wieder da – wenn sie gestorben sind.
Es dauert nicht lange, und wir hören die alten Lieder oder durchwühlen Youtube nach seltenen Aufnahmen, teilen Postings anderer, weil sie uns berühren, schreiben selbst kleine Nachrufe, kurze Erinnerungsprosa, lesen die ersten professionellen Nachrufe, vergleichen diese Nachrufe und legen all die Nachrufe zur Seite, die wir später noch lesen wollen.
Hemmungslos schwärmen
Ach, wie war das früher noch, als man am Abend im Radio oder im Fernsehen vom Tod eines bekannten Menschen erfuhr und am nächsten Morgen am Frühstückstisch den Nachruf in der Zeitung las, der einen Zeitung, die man abonniert hatte. Heute geht alles viel schneller, irre, wie rasch die Todesdaten bei Wikipedia nachgetragen werden.
Und es ist viel mehr, so viel, dass man den Eindruck gewinnt, es stürben im Moment gerade besonders viele bedeutende Männer, Pardon, Menschen. Aber man braucht kein Prophet zu sein, um zu sagen, dass sich dieser Eindruck zerstreuen wird, einfach nur deswegen, weil wir uns an diese neue Nachrufkultur bald gewöhnt haben werden.
Aber noch ist eine Irritation da. Auch der klassische Nachruf war ja nie ein Medium der Kritik, sondern eines der respektvollen Würdigung. Vor dem Tod zerschellen erst einmal alle Einwände gegen eine Person, eine Karriere, ein Werk. Erst allmählich kommen sie an die Öffentlichkeit, in Form von kritischen Biografien etwa. Aber auch Wochenzeitungen können erste Korrekturen am allzu geschönten Bild liefern, man denke etwa an den differenzierten Nachruf zu Helmut Schmidt im Freitag.
Das Affirmative fällt nur deutlicher auf, wo wir selbst nicht nur Konsumenten, sondern durch die sozialen Medien selbst zu Produzenten oder wenigstens Mitproduzenten von Nachrufen werden. Wir wollen hemmungslos gut finden, schwärmen, uns begeistern, wollen uns selbst im Glanz des Toten spiegeln.
Muhammad Ali
Wir feiern den Toten selbst für Werte, die wir in der Öffentlichkeit abgeschrieben haben. Nehmen wir Muhammad Ali, der am 3. Juni 2016 starb: Das Erste, was ich über seinen Tod las, war eigentlich auch schon das Rührendste. Auf Facebook schrieb jemand sinngemäß, es habe in seinem Leben zwei Momente gegeben, in denen er seinem Vater wirklich nahe war: Als er gemeinsam mit ihm 1969 tief in der Nacht die Mondlandung schauen durfte. Und fünf Jahre später, als er auch Alis Kampf gegen George Foreman in Zaire sehen durfte.
Dann kam so vieles, unter anderem von mir selbst der Hinweis auf eine CD mit einer Sammlung von eher unbekannten Songs über Muhammad Ali, ein doch schon reichlich geschmäcklerisches Posting, bis ich zwei Tage später auf einen Artikel im Spectator stieß, der mir in diesem Moment aus der Seele sprach: „Muhammad Ali verkörperte alles, was linke Menschen an der Machokultur hassen.“
Gerade von den Linken wurde Ali jetzt aber besonders gefeiert. Sogar die Junge Welt widmete ihm einen Nachruf. Ja, ja, ich weiß doch, Ali war gegen den Vietnamkrieg, er hat unendlich viel für das Selbstbewusstsein der Schwarzen und der Muslime getan, und zwar für Muslime aller Glaubensströmungen, indem er sich nach seinem Übertritt zum Islam nicht nur nach dem Propheten benannt hatte, sondern auch nach dessen Cousin Ali, der von den Schiiten und Alawiten besonders verehrt wird.
Lemmy
Das weiß ich übrigens auch nur aus einem Nachruf, einem in der Süddeutschen Zeitung. Ich halte Nachrufe keineswegs für ein „dummes“ Genre, darum geht es nicht. Mein Unbehagen speist sich aus anderen Quellen.
Nehmen wir Lemmy Kilmister, den Sänger und Bassisten von Motörhead, der am 28. Dezember 2015 starb. Die mediale Anteilnahme war enorm, die Beerdigung in Hollywood konnte im Livestream verfolgt werden. „Lemmy’s Death Has Given New Life to the Sunset Strip“, meldete die L.A. Weekly glücklich. Auf Facebook wurde Lemmy als echter Rock ’n’ Roller gefeiert. Eine sogenannte ehrliche Haut, ein Mensch, der ohne Rücksicht auf Verluste lebte und sprach. Einer, der von „den Arschlöchern“ redete (aber immer gerade den Journalisten nicht meinte, dem er die Arschlöcher ins Mikro diktierte), vom Saufen und vom Frauenflachlegen, als gäbe es kein Morgen. Eigentlich eine Angestelltenfantasie, eine Gestalt für die Bierwerbung.
Aber das durfte man nicht ungestraft sagen, jedenfalls nicht so kurz nach Kilmisters Ableben. Als ich bei Facebook diesen, wie ich fand, wahrhaft gegen den Strom schwimmenden Eintrag meines Freunds Mikael teilte (eines gründlichen Lesers von Karl Ove Knausgård), wollte partout kein „Gefällt mir“-Daumen hochgehen:
"Gestern ist Lemmy Kilmister gestorben. Das ist traurig. Ich muss den Trauergottesdienst kurz stören, denn ich kann diese spätpubertäre Verehrung eines Alkoholikers, dieses Lob des Abgrunds (the dark side’s all you want to see), diese vor allem männliche Sehnsucht nach einem entgrenzten, exzessiven, destruktiven Leben nicht mehr hören. Ihr wollt Abgründe? Dann erzieht ein Kind. Ihr wollt so richtig on the edge leben? Dann arbeitet an eurer Beziehung. Ihr wollt Dinge erleben, die größer sind als ihr selbst? Dann helft jemandem, ohne selber davon zu profitieren.“
Sentimentalitätsproduktion
Nicht dass man mich falsch versteht, ich stehe der Mehrung des menschlichen Fortschritts durch Zwang und Verordnung (some call it "political correctness...") skeptisch gegenüber. Wenn also moderat unglückliche Familienväter im Tod von Lemmy ihren ach so „wilden“ abgründigen Träume nachtrauern wollen, sollen sie das tun. Und wenn die Nachrufkultur der Ort ist, wo man solche Träume haben kann, soll es mir gerade recht sein. Es gibt gute Gründe für die konservative These vom Nutzen einer solchen Kompensationskultur.
Das Problem ist nur, dass sie sich noch nicht so recht als solche versteht. Man wäre sich dann klarer darüber, dass es eine zutiefst sentimentale Kultur ist.
Natürlich ist die Sentimentalität im Gedenken nicht neu. Ein Gipfel wurde schon im Herbst 1977 erreicht, als der holländische Musiker und Produzent Eddy Ouwens den Song I Remember Elvis Presley produzierte und wenige Wochen nach dem Tod des Kings unter dem Pseudonym Danny Mirror veröffentlichte. Zwingend an dem Song waren weder seine Melodie noch Ouwens’ tiefe, schmalzige Stimme, die die Stimme von Presley so perfekt imitierte. Nein, seinen sentimentalen Höhepunkt erreichte der Song schon am Anfang mit einem Sprechgesang, zu dem sich die Musik noch dezent im Hintergrund hält, um dann am Ende der Nachricht hochzudrehen: „Last night I turned radio on for the midnight news. Suddenly I thought I died of a broken heart: When I heard the announcer say: ‚Ladies and gentlemen, the King is dead. Elvis Presley just died in a hospital in Memphis, Tennessee. Forty-two years on this planet, but he’ll be here forever.‘“
Ein beliebig wiederholbarer Song über den einen schockhaft negativen-erhabenen Moment der Nachricht vom Tod eines Großen. Die Stimme des Sängers, die eigentlich unsere Stimme ist, mit der Stimme des Nachrichtensprechers verwoben – Elvis, so nah und doch so fern. Nun ja, der Medienwissenschaftler Friedrich Kittler könnte vermutlich präziser beschreiben, was genau da abläuft, leider ist er aber auch schon tot. Und doch: Vielleicht funktioniert die Gefühlsmaschine annähernd so in der neuen Gedenkkultur.
Vom Nachruf zum Vorruf
Wenn bei uns in der Redaktion wieder mal ein Nachruf angemahnt wird, und wir uns fragen, was man denn in dieser Flut von Nachrufen noch schreiben soll, und man es aber doch schreiben muss, weil es nun einmal erwartet wird, reagiere ich oft unwirsch und sage: 'Besser wäre es, wir hätten ihn oder sie zu Lebzeiten gewürdigt!'
Das ist natürlich gemein, denn zur Conditio humana gehört nun mal, dass man meist erst dann so richtig spürt, was man an einem Menschen hat, wenn er nicht mehr da ist.Oder wenn er bald nicht mehr da sein wird. Deshalb macht sich die neue Nachrufkultur verstärkt auch in Fällen bemerkbar, wo so etwas wie ein Nachruf zu Lebzeiten stattfindet.
Das beste Beispiel dafür ist der Hype um Udo Lindenberg, seinen 70. Geburtstag und die neue Platte Stärker als die Zeit, gegen die man vieles einwenden kann, aber nicht, dass sie nicht mit einem grandiosen Gespür für die Gesten des Abschiednehmens geschrieben ist. „Ich nehm die Sonnenbrille ab, check den Moment …“
Schön wäre es schon, wenn die neue Nachrufkultur eine Kultur des Wissens um die Vergänglichkeit herausbildete – wenn sie die Aufmerksamkeit für die, die da sind, schärfte, im Wissen, dass sie morgen vielleicht schon weg sind. Der Vorruf als ein neues Genre wäre dazu vielleicht ein erster Schritt.
Kommentare 10
Amüsant!
Was Muhammad Ali angeht, ich hab auch zu Lebzeiten nie ein schlechtes Wort von einem Linken über ihn geschrieben gelesen, aber Feldforschung hab ich dazu auch nicht gerade betrieben.
Exemplarisch ist natürlich der Herr Kilmister. (Was wird erst abgehen, wenn Ozzy endlich ins Gras beißt?) Prima, was Mikael Krogerus dazu schrieb (was mir entging, weil mich Lemmy K. nach seinem Tod genauso wenig interessierte wie vor diesem.) Ich frage mich aber mit einem Grinsen, was MK wohl über Karl Ove Knausgård nachrufend schreiben würde. Denn den werden sie eines Tages auch wie einen toten Rockstar beweinen.
Au, da haben Anlass und Agenda mal wieder zueinander gefunden wie der Fisch und das Fahrrad. Bekanntlich will der Freitag ja nicht nur, dass seine Leser*nnen ohne Unterlass an ihrer Beziehung arbeiten (am besten mit dem Ergebnis, auf Heterosex ganz zu verzichten), stetiglich die andere Wange hinhalten und sich ansonsten mit Bio, Butler und poststrukturalistisch-unverständlichen Literat*innen die Birne dopen wie die Proleten ihren Body mit Tattoos. Zur erweiterten Agenda gehört natürlich auch die Abschaffung der Rockmusik. Nieder mit dem Rockismus!
Wie aber eliminiert man den Impuls zur Rebellion, wie geht man die Zwangslosigkeit, das Informelle, Legere und Subversive an, dass dieser Form Musik wesenseigen ist? Vom Ziel her gedacht: Wie bringt man Leute dazu, sich freiwillig in die Käfige und Korsetts des vorgeblich aufgeklärten Mittelstandsmilieus zu begeben? Zugegeben – es ist schwer. Viel mehr als die spitze Feder bleibt einem als Schreiber einer am Rand des bürgerlichen Mainstreams dahinvegetierenden Wochenblatts da leider nicht.
Nun: Lemmy. Klar – der mußte ja fast sein. Wobei die etwas krampfhafte Abgeklärtheit lediglich unter Beweis stellt, dass Sie Lemmy und die Leckt-mich-am-Arsch-Attitüde, die er als sein persönliches Signet durchgezogen hat, weder zu seinen Lebzeiten verstanden haben noch nach seinem Ableben. Gut – über Toleranz kann man streiten. Nur ist das Problem, um das es eigentlich geht, völlig anders gelagert als in Ihrer schönen Livestyle-Glosse dargestellt. Eigentlich auffällig nämlich ist, dass die Lebenserwartung im Metier Rockmusik eigentlich derart skandalös ist, dass auf der Stelle eine UN-Organisation gegründet werden müßte. Woran liegts? Ein bißchen sicher auch an »Sex & Drugs & Rock’n’Roll«. Wenn man sich allerdings die Gratwanderung im Mileu anschaut – gestern noch Star, heute kalte Pizza und über den Tisch gezogen von einer miesen Agentur oder einem ebenso verranzten Label, morgen Jobcenter mit Hartz IV und übermorgen Altersarmut, dann sollte einem schon etwas mehr einfallen als ebenso wohlfeile wie abgestandene bürgerliche Lebenswandel-Kritik.
Abgesehen davon empfinde ich Dankbarkeit und Hochachtung für die Musik, die Lemmy und andere uns geschenkt haben. Als Beispiel, das Sex & Drugs & Rock’n’Roll noch lange nicht tot sind, an der Stelle ein kleiner Remember-Clip für Lemmy – RIP.
Verbindlichsten Dank und eine doppelte Runde Sterne dafür:
Nur ist das Problem, um das es eigentlich geht, völlig anders gelagert als in Ihrer schönen Livestyle-Glosse dargestellt. Eigentlich auffällig nämlich ist, dass die Lebenserwartung im Metier Rockmusik eigentlich derart skandalös ist, dass auf der Stelle eine UN-Organisation gegründet werden müßte. Woran liegts? Ein bißchen sicher auch an »Sex & Drugs & Rock’n’Roll«. Wenn man sich allerdings die Gratwanderung im Mileu anschaut – gestern noch Star, heute kalte Pizza und über den Tisch gezogen von einer miesen Agentur oder einem ebenso verranzten Label, morgen Jobcenter mit Hartz IV und übermorgen Altersarmut, dann sollte einem schon etwas mehr einfallen als ebenso wohlfeile wie abgestandene bürgerliche Lebenswandel-Kritik.
you nailed it.
Können Sie eigentlich auch anders als nur bösartig, garstig und abstoßend unsympathisch?
Den Tod Anderer als Anlass für eine Replik eigener Erinnerungen zu nehmen, ist für mich eine menschlich nachvollziehbare Reaktion, die keiner Instrumentalisierung (auch keiner geziezten) bedarf.
Sicherlich. Den Tod Lemmy Killmisters als Anlass zu nehmen für eine Replik, die im Wesentlichen aussagt, dass dieser ein »vorpubertärer Alkoholiker« gewesen sei, muß man – schon aus Respekt für die schon per definionam unfehlbaren Gedanken des Rezepienten – auf alle Fälle unwidersprochen hinnehmen. Oder noch besser: als unhinterfragbare letzte Weisheit, angesichts der ein Widerspruch (oder eine andere , etwa positivere Wertung) nur »bösartig, garstig und abstoßend unsympathisch« sein kann.
Schöne Neue Welt. Die ich mit gelegentlichen Sottisen gern weiter begleite.
... wie war denn das mit Ihrem Nachruf für Schimanski?
Wieso, wozu, warum? und was ...
.... untercheidet ihn von Killmister?
Hat der sich nicht genug über "Zollzeichen" aufgeregt?
?????
Ach so … Schimanski: Klar hätte ich gebührend breit auf den Vater hinweisen können, auf dessen Rolle unter den Nazis – am besten garniert mit ein paar Anspielungen, um Götzi ebenfalls ins rechte Lager zu rücken. Ebenso hätte ich die Schimanski-Reihe einer poststrukturalistischen Gender-Kritik unterziehen können und dabei die Kritik platzieren, dass diese Kommissarfigur eine Waffe (!!, geht gar nicht) getragen hat. Ich hätte schließlich auch das Frühwerk mit Winnetou und so weiter ordentlich als Trashkino für Leute mit IQ 90 abwärts herunterputzen können.
Kurzum – ich hätte mit Götz George ähnlich umspringen können wie Michael Angele mit Lemmy Kilmister. Der springende Punkt: Habe ich aber nicht. Ich denke, in einer bestimmten Liga läßt man entweder den Nachruf oder versucht eine angemessene Wertung (die durchaus auch Kritik enthalten kann). Sich an (relativ) frisch Verstorbenen auf derartige Weise schadlos zu halten, widerspricht zumindest meinem Gefühl von Respekt und Fairness.
Don't say what you mean
You might spoil your face
If you walk in the crowd
You won't leave any trace
It's always the same
You're jumping someone else's train
Man macht andere Menschen immer nur auf eigenes Risiko und auf die Gefahr eigener Lächerlichkeit hin zu seinen Helden. Unterlässt man das, sind auch die Nachrufe kein Problem mehr. Und man muss nicht schlucken, wenn sich ein Michael Jackson doch als Dreckschwein herausstellt, was man vor seinem Tod nie glauben konnte^^ Schade, dass Woody Allen noch lebt, Mia Farrow wird an seinem Todestag eine Runde schmeißen.