Die Seelen der Flüsse

Hegelplatz 1 Von der Spree an den Po führt eine geheime Linie
Ausgabe 28/2018
Nadel im Heuhaufen. Von den allermeisten Menschen wird der Po in Italien völlig vernachlässigt
Nadel im Heuhaufen. Von den allermeisten Menschen wird der Po in Italien völlig vernachlässigt

Foto: Marco Bertorello/AFP/Getty Images

Die Spree liegt nur wenige hundert Meter vom Hegelplatz entfernt. Sie ist ein unzerstörbares Symbol der Stadt, oft besungen. An ihren Ufern zu flanieren, ist dennoch keine Hauptbeschäftigung ihrer Bewohner. Die Promenaden sind eher bescheiden. So richtig ihrem Fluss zugewandt hat sich die Stadt nicht.

Dabei geht es der Spree noch vergleichsweise gut. Ein imposanter Verwandter von ihr, der Po in Italien, wird völlig vernachlässigt. Es gibt Menschen, die direkt an seinen Ufern leben und ihn doch nie grüßen. Die vergessen haben, wer er ist. Ich habe davon erfahren aus dem neuen Buch des Triester Schriftstellers Paolo Rumiz: Die Seele des Flusses. Auf dem Po durch ein unbekanntes Italien. Rumiz hat den Po mit anderen Argonauten vom Piemont bis zur Mündung in der Adria erkundet, erst mit einem Kanu, dann auf einem Segelboot. Auf dieser Reise stoßen wir an unselige Staumauern, wir ärgern uns, wenn wir sehen, wie der enorme Kiesraub dem Fluss zusetzt, wir erfahren vom Verlust vieler angestammter Fischarten, vom Verlust seiner Bedeutung als Verkehrsweg … Die Reise führt in ein Land, das seine „Seele“ verloren hat. Italien heute.

Aber dort, wo die Einheimischen längst nicht mehr baden und fischen, tun es jetzt mancherorts neue Anwohner aus Osteuropa. Wir lernen die verborgenen Schönheiten des Flusses kennen: die Stille, die seine Ufer und Nebenarme ausstrahlen, aber auch das Treiben in der Nacht, wenn Schmuggler auf ihren Booten vorbeihuschen, und wir kehren in Osterien ein, die ein wenig aus der Zeit gefallen sind und allein durch die nie gehörten Namen ihrer Gerichte verzaubern: anolini, mariola, ambolina … Überhaupt, die Differenzen: Die Emilia kümmert sich vergleichsweise gut um den Fluss, während die Lombardei sehr schlecht mit ihm umgeht. Mailand schenkt ihm, dem die Stadt ihr Wasser verdankt, nur den Schmutz. Schließlich das Delta mit seiner unwirklichen Weite; Esther Kinsky hat sich darin verloren in ihrem Prosaband Hain, der dieses Frühjahr zu Recht den Leipziger Buchpreis gewann.

Man wünscht Paolo Rumiz eine ähnliche Beachtung. Denn sein Buch schärft den doppelten Blick: den allegorischen, der die Kosten unseres Lebensstils vor Augen führt, und den poetischen, der eine fragile Schönheit in alledem und jenseits von ihm entdeckt. Ich denke, so sollte man heute überhaupt durch die Welt gehen. Egal, wo man gerade ist. An der Spree zum Beispiel gibt es ein Café direkt gegenüber dem Bodemuseum. Es öffnet nur im Sommer, ein Provisorium, wie es sich für Berlin gehört. Wer sich vor der Arbeit dort hinsetzt, kann den Leuten vom Grünflächenamt ihre Geschichten ablauschen oder ein Buch lesen. Die Seele des Flusses zum Beispiel.

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Geschrieben von

Michael Angele

Ressortleiter „Debatte“

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hing er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fußball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

Michael Angele

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