„Ein Bärendienst an den Studenten“

Im Gespräch „Schleichende Noteninflation“ an Hochschulen? Jeder weiß längst, dass es zu viele zu gute Noten gibt. Das entzürnt Heinz-Peter Meidinger vom Deutschen Philologenverband

Es gibt Missstände, die so offensichtlich sind, dass man sich nur wundern kann, wieso sie trotzdem herrschen. Seit langem werden an deutschen Hochschulen viel zu milde Noten verteilt. Und der Trend hält an. Der Anteil der Studenten, die ihr Studium mit „gut“ oder „sehr gut“ abschließen, sei binnen zwölf Jahren von 70 auf gut 80 Prozent gestiegen, sagt der Wissenschaftsrat. Es gibt wohl nicht viele, die an einer Hochschule unterrichten und sich in dieser Sache wohl fühlen. Dabei sieht sich der Dozent als Täter und Opfer. Einerseits will er einem Menschen mit einer schlechten Note nicht die Zukunft verbauen, andererseits weiß er, dass er mit dieser Praxis das Leistungsbild verzerrt. Ein fataler Kreislauf, aus dem fast nur bei Strafe von Kollegen- und Studentenmissachtung auszubrechen ist. Der folgende Eintrag ins Forum einer Studentenplattform zeigt sehr klar das Geflecht aus Ansprüchen und Abhängigkeiten:

„Ich habe vor einem Monat meine Bachelorarbeit abgegeben. In den Gesprächen war mein Professor immer sehr zufrieden. Auch gab er mir einmal den Tip, dass sich meine Arbeit im Raum einer 1, X bewegen wird. Nun habe ich heute erfahren, das meine Arbeit mit einer 2,5 gewertet wurde. Ein sehr schlechtes Ergebnis. Auch habe ich den Professor extra noch vor Abgabe meiner Arbeit gefragt, ob es noch außenstehende Kritikpunkte gäbe. Ich habe ihn nun heute gleich per Mail kontaktiert, dass ich etwas verwundert über das Ergebnis bin und gerne ein Gespräch bei Ihm hätte. Er meinte daraufhin, dass er meine Arbeit als ‚gut‘ empfindet und das Ergebnis sich aus seiner Bewertung und die des Zweitkorrektors setzt.“

Man muss dem Zweitkorrektor gratulieren. Einer, der die Noteninflation schon vor Jahren kritisiert hat, ist Heinz-Peter Meidinger, der Vorsitzende des Deutschen Philologenverbands.

Der Freitag: Herr Meidinger, Sie sind 2007 mit einer heftigen Kritik an der viel zu weichen Benotung von wissenschaftlichen Arbeiten an die Öffentlichkeit getreten. Was waren Ihre Erfahrungen danach?

Heinz-Peter Meidinger: Ich bekam damals insbesondere nach der Berichterstattung im Spiegel geradezu eine Flut an zustimmenden Zuschriften mit einer ganzen Reihe von besonders haarsträubenden Einzelbeispielen. Es gab aber auch Rückmeldungen aus Universitäten, in denen berichtet wurde, wie man diese Flucht aus der Verantwortung für eine objektivierte Leistungsfeststellung wirksam stoppen kann. Von den Prüfungsämtern sowie Fakultäts- und Hochschulleitungen oder aus der Politik kam kaum Resonanz.

Geändert hat sich also nichts?

Nein, im Gegenteil, die Entwicklung hin zu immer besseren Noten hat sich in den letzten Jahren sogar verschärft, wie die aktuelle Auswertung des Wissenschaftsrats ergeben hat. Es fehlt meines Erachtens grundlegend am gemeinsamen Willen von Hochschulen, der Mehrzahl der Professoren, aber auch der Bildungspolitik, das Problem klar zu benennen und koordiniert wirksam gegenzusteuern. Deshalb wird sich die Entwertung der Noten von Examensprüfungen und damit der Hochschulabschlüsse insgesamt wohl fortsetzen.

Wie könnte man die Noteninflation eindämmen? Müsste man nicht die Abschlussarbeiten den Betreuern entreißen und von einem Fachkollegen anonym und nach Zufallsvergabe bewerten lassen? Warum wird das nicht gemacht? Warum gibt es dafür offenbar keinen hochschulpolitischen Willen?

Die Frage müsste man in erster Linie an die Hochschulen stellen. Tatsächlich gibt es weder in den Fakultäten noch in den Hochschulleitungen wirklich jemanden, der sich dafür verantwortlich fühlt, für eine gerechte Benotung zu sorgen. Das liegt auch daran, dass Prüfungen und überhaupt alles, was mit der Lehre zusammenhängt, im Gegensatz zu Exzellenzinitiativen und Drittmittelforschung nach wie vor an deutschen Hochschulen einen geringeren Stellenwert hat. Außerdem bedeutet das von Ihnen skizzierte System einen nicht unbeträchtlichen Mehraufwand und gegebenenfalls auch Ärger innerhalb der Universität. Daran hat dort niemand Interesse. Die Angst, sich in die Karten schauen zu lassen, eventuell bestätigt zu bekommen, dass man die Studenten schlecht auf die eigene Prüfung vorbereitet hat, ist bei vielen Dozenten, Lehrbeauftragten und Professoren stärker als das Interesse an einer objektivierten Bewertung.

Eine gute Beurteilung der Lehrveranstaltung durch die Studenten gegen eine milde Zensur durch den Dozenten: Dieser von ihnen kritisierte „Kuhhandel“ scheint an den Hochschulenweit verbreitet. Wie kann man ihm entgegentreten? Allein durch den Mut zur unpopulären Haltung? Ein Verzicht der Evaluierung der Dozenten durch die Studenten scheint ja nicht durchsetzbar.

Da würde mehr Selbstbewusstsein bei den Prüfern gut tun. Ich bin auch aus meinen Schulerfahrungen heraus ganz sicher: Die Mehrzahl der Schüler und Studenten will keine Lehrpersonen, die ihnen die guten Noten nachwerfen, weil alle wissen, dass der Verzicht auf Differenzierung auch die Chance nimmt, sich wirklich durch Leistung auszuzeichnen. Der ganze Hype um die Internetplattformen zur Professoren- und Lehrerbeurteilung ist außerdem längst abgeklungen, weil man weiß, wie manipulierbar, subjektiv und nicht repräsentativ solche Befragungsergebnisse sind.

Sie haben auch auf die unselige Rolle der mündlichen Prüfung hingewiesen. Dass sie sich negativ auf die Gesamtnote auswirkt, ist die Ausnahme. Sie ist ein „Weichmacher“, der schriftliche Noten nach oben korrigiert. Was wäre Ihr Lösungsvorschlag? Ganz zu verzichten scheint auch hier nicht möglich.

Man kann eine mündliche Prüfung genauso anspruchsvoll und an objektiven Vergleichskriterien orientiert durchführen wie eine schriftliche Klausur. Voraussetzung ist, dass eine klare Abstufung der Prüfungsteile nach Schwierigkeitsgrad vorgesehen ist und ein vorher erstellter, umfassender Erwartungshorizont vorliegt, was nicht heißt, dass nicht vorgesehene richtige Lösungswege und Antworten der Studenten ausgeblendet werden müssen. Dieser Erwartungshorizont sollte übrigens auch dem Zweitprüfer vorliegen, damit dieser klare Kriterien für die Notenfindung hat. Bei den Lehramtsprüfungen zum Beispiel stammt der Zweitprüfer bei mündlichen Prüfungen meist aus dem Schulbereich und spielt derzeit nur eine Randrolle.

Es fällt ja auch auf, dass – vermutlich besonders in den geisteswissenschaftlichen Fächern – viele Professoren die Notenselektion innerlich ablehnen und durch inflationäre Vergabe „subversiv“ zu unterlaufen trachten. Was ist diesem Typus von Hochschullehrer zu entgegnen?

Tatsache ist, dass die vermeintlich darin zum Ausdruck kommende Studentenfreundlichkeit eigentlich eine Haltung ist, die insbesondere den leistungsorientierten Studenten einen Bärendienst erweist. Eine Inflation von Bestnoten führt nämlich dazu, dass anstelle der dann nicht mehr differenzierungsfähigen und aussagelosen Uninoten andere Kriterien bei der Stellenauswahl von Unternehmen und anderen Arbeitgebern treten, die mit Sicherheit nicht zu mehr Bildungsgerechtigkeit führen, etwa persönliche Beziehungen, Selbstdarstellung oder Auslandsaufenthalte, die sich Studenten aus vermögenden Elternhäusern eher leisten können als andere.

Eine einseitige Schuldzuweisung an die Professoren scheint mir indes zu einfach. Unter den Studenten hat sich eine Erwartungshaltung breitgemacht, die schon in einer Bewertung mit „gut“ eine Zumutung sieht. Ist nicht auch das eine negative Folge des Bologna-Prozesses?

Ich gebe Ihnen insofern recht, als sich beide Seiten, Prüfer und Prüflinge, in dem vielfach – aber nicht überall und in allen Fächern – verbreiteten Kuschelnotensystem bequem eingerichtet haben. Es reduziert den Korrekturaufwand, mir wurde von korrigierten Klausurarbeiten berichtet, auf denen außer der Note keine einzige Korrekturanmerkung zu finden war, und es vermeidet unangenehme Prüfungsfolgen wie Beschwerden und gerichtliche Anfechtungen. Der Bologna-Prozess war sicher nicht der Auslöser dieser Entwicklung, die schon viel früher begonnen hat. Aber er hat diesen Trend mit Sicherheit beschleunigt.

Heinz-Peter Meidinger ist Leiter des Robert-Koch-Gymnasiums Deggendorf und seit 2003 Bundesvorsitzender des Deutschen Philologenverbandes

Und was sagen Studenten über die Kritik an der Notengebung?

Ich empfinde mich schon als notenverwöhnt. Mit einer 2,0 war ich in meinem Studium nicht zufrieden. Natürlich wusste man, wer härter und wer softer bewertet. Gemieden hätte man deshalb niemanden, in erster Linie geht es um die Qualität der Lehrenden. Die Noten waren mir immer nur bei den Dozierenden wichtig, die ich persönlich geschätzt habe. Der Rest in dieser ganzen Notenflut war mir dann egal. Wichtig war nur noch die Note meiner Abschlussarbeit – einfach weil ich eine Menge Arbeit da rein gesteckt hatte.
Studentin der Kulturwissenschaft und Spanischer Philologie, Bachelor

Gerade in Fächern mit hohen Durchfallquoten im Grundstudium sehe ich nicht ein, warum ein mittelmäßiger Student, der sich durchs Studium gewühlt hat, nicht auch die Möglichkeit haben sollte, dieses mit einer guten Note abzuschließen. Die wirklichen „Superbrains“ heben sich meiner Erfahrung nach anders hervor, indem sie z.B. früh als wissenschaftliche Mitarbeiter arbeiten. Man könnte aus der Forderung nach differenzierteren Noten auch ein gewisses Interesse potentieller Arbeitgeber herauslesen, sich Aufwand beim Auswerten von Bewerbungen zu sparen.
Student der Physik, Diplom

Ich habe je nach Fach unterschiedliche Erfahrungen gemacht: In Philosophie war es schwer, eine eins zu bekommen, was wohl am Selbstverständnis des Faches liegt. Die Theaterwissenschaftler hingegen galten immerals die, die sich durchs Studium mogeln können, mit den besten Noten. Wenn es über einen Prof heißt: „Der gibt doch allen eine eins“, überlegt man sich, ob man da seine Magisterarbeit schreiben soll. Wenn ich das Gefühl hatte, ich habe mir die Note nicht richtig verdient, fand ich das sehr unbefriedigend.
Studentin der Theaterwissenschaft, Philosophie und Soziologie, Mag. / Master

Es gibt einen Unterschied zwischen geisteswissenschaftlichen Studiengängen, in denen die Noten aufgrund von individuellen Leistungen wie Hausarbeiten vergeben werden, und z.B. Jura, BWL, Ingenieurswissenschaften. Hier lassen sich die Ergebnisse viel leichter vergleichen. Ich finde es unnötig, durch übertriebene Strenge und Leistungsdruck eine Elite formen zu wollen. Man braucht gute Noten als Motivation und einen sehr guten Abschluss, um einen Masterplatz zu bekommen. Wenn ich eine gute Bewertung erhalten habe, hatte ich immer das Gefühl, dass sie angemessen war. In meinem Studiengang ist selbstständiges Arbeiten und Denken essentiell und wäre ich dazu nicht in der Lage, würde sich das in den Noten widerspiegeln.
Studentin der Vergleichenden Literatur- und Kunstwissenschaft, Master

Noten möchte man ja keine so hohe Bedeutung beimessen, wenn man sie aber bekommen hat, istsie einem doch nicht egal. Zumindest wenn sie schlecht ist. So oder so: Die Wirkung einer Zensur ist eher kurz, für ein konstruktives Feedback ist ein Gespräch mit dem Dozenten oft wertvoller. Sich gerecht bewertet zu fühlen, geht mit Transparenz hinsichtlich Bewertungskriterien und Erwartungshorizont einher.
Studentin der Biologie und Geschichte, Master of Education

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Angele

Ressort Debatte

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hängte er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fussball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

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