„Ein schmaler Grat, auf dem wir gehen“

Streitgespräch Was zählt mehr? Rassismusverdacht oder Freiheit der Lehre? Die Politikwissenschaftlerin Gudrun Hentges und Sandra Kostner vom Netzwerk Wissenschaftsfreiheit diskutieren
Ausgabe 02/2021
Antirassistische Demonstration in Berlin im Juni 2020
Antirassistische Demonstration in Berlin im Juni 2020

Foto: Maja Hitij/Getty Images

Political Correcntss, Cancel Cuture: Die Freiheit der Forschung sei in Gefahr, argumentiert das neue gegründete Netzwerk Wissenschaftsfreiheit. Man dürfe an der Uni nicht alles sagen, wenn der Preis dafür Rassismus sei. So der Tenor einer Stellungnahme der Forschungsstelle für Interkulturelle Studien (FiSt) der Universität zu Köln, mitinitiiert von der Politikwissenschaftlerin Gudrun Hentges. Solche Interventionen verfolgten das Ziel, unliebsame Forschung zu verdrängen, kritisierte die Migrationsforscherin Sandra Kostner in der FAZ. Grund genug, die beiden zum Streitgespräch einzuladen.

der Freitag: Frau Hentges, eine afrodeutsche Studentin fühlte sich in einem Seminar rassistisch angegangen. Die Studentin richtete nun eine Petition an die Landesregierung mit dem Ziel, „institutionellen Rassismus“ zu „dekonstruieren“. Sie haben diese Petition unterschrieben. Was ist für Sie institutioneller Rassismus?

Gudrun Hentges: Vorab: Ich finde es sehr mutig, dass die Kölner Studentin ihre Erfahrungen geteilt und in die politische Debatte interveniert hat. Zu Ihrer Frage: Ich meine, man kann Rassismus nicht auf individuelle Vorurteile reduzieren, er ist ein strukturelles Problem. Rassismus ist eine Ideologie, eine Struktur und ein Prozess, so die britische Wissenschaftlerin Philomena Essed. Soziale Gruppen werden als „Rassen“, Ethnien oder Kulturen konstruiert. Ihnen wird unterstellt, sie wären wesensmäßig anders oder gar minderwertig. Mitglieder dieser Gruppen werden vom Zugang zu materiellen oder nicht materiellen Ressourcen ausgeschlossen. Auch, aber nicht nur, im Bildungssystem.

Sandra Kostner: Nun hörte ich in unserem Vorgespräch von diesem Fall zum ersten Mal. Es fehlt mir die Sicht des Dozenten und von Kommilitonen, um die Situation einordnen zu können. Daher nur dieses: Die Szene hat sich im Rahmen eines Seminars für interkulturelle Kompetenz abgespielt. Bis vor ungefähr zehn Jahren wurde in diesen Trainings vermittelt, dass man die Frage nach der Herkunft stellen soll, weil das ein Zeichen der Höflichkeit sei, Interesse signalisiere. Inzwischen wird diese Frage vor allem im identitätslinken Milieu als Absprechen der Zugehörigkeit oder sogar als Zeichen des Rassismus gedeutet. Das ist zu simpel, weil es darauf ankommt, wie und mit welcher Absicht die Frage gestellt wird. Aus Interesse? Um ein Gespräch einzuleiten? Oder weil jemand signalisieren will, dass er nicht dazugehört?

Hentges: Letzteres ist eben nicht selten. Ich finde die Kritik an der Frage „Woher kommst du?“ berechtigt. Allzu häufig machen Menschen aufgrund ihrer äußeren oder anderer Merkmale die Erfahrung, penetrant nach der „eigentlichen Herkunft“ gefragt zu werden, vor allem People of Color. Ihnen wird implizit abgesprochen, Teil der bundesdeutschen Bevölkerung zu sein, und diese Erfahrung stärkt das Gefühl von Ausschluss.

In dem Online-Seminar saßen offenbar viele StudentInnen aus anderen Herkunftsländern, das Thema war Corona in diesen Ländern. Da scheint mir eine eingangs gestellte Frage nach der Herkunft nicht gerade bösartig.

Hentges: Aber was dann folgte, war eben nicht okay. „Sie sehen exotisch aus, aber an Ihrem Akzent merkt man, Sie sind in Deutschland aufgewachsen“, soll der Dozent gesagt haben. Ich finde das höchst problematisch, da schwingt eine Exotisierung mit. Vor einem Seminar zu interkulturellen Kompetenzen kann man doch erwarten, dass sich die Dozierenden am „state of the art“ orientieren.

Richtig ist, dass die Studentin die Frage zu ihrer Herkunft als abwertend empfand. Hatte sie da nicht das Recht, sich Gehör in der Öffentlichkeit zu verschaffen, Frau Kostner?

Kostner: Natürlich hat jeder das Recht, sich Gehör zu verschaffen. Hier geht es aber um die Verhältnismäßigkeit, sie scheint mir nicht gewahrt. Das war kein Austausch auf Augenhöhe. Im Gegenteil habe ich den Eindruck, dass eine Situation, die direkt mit dem Dozenten hätte geklärt werden sollen, sofort in skandalträchtiger Manier öffentlich gemacht wurde. Ich frage mich: Warum macht man das?

Warum also?

Kostner: Ich vermute, weil die Studentin wusste, dass sie in den sozialen Medien schnell Unterstützung findet. Darauf lassen die 54.000 Klicks auf ihren Instagram-Post schließen. Plus die Unterstützung von Wissenschaftlerinnen wie Frau Hentges. Schließlich eine Petition bei der Landesregierung: Auf mich wirkt das Ganze so, als hätten die Studentin und ihre Unterstützer die Äußerung des Dozenten zum willkommenen Anlass genommen, um Universität und Landesregierung moralisch unter Druck zu setzen, um ihre partikularen Ideen von Antirassismus durchsetzen zu können.

Wie würden Sie Ihre Motive beschreiben, Frau Hentges?

Hentges: Frau Kostner, Sie sagen, es handele sich nicht um einen Austausch auf Augenhöhe. Das finde ich auch nicht entscheidend, sondern dass wir uns mit dem strukturellen Rassismus beschäftigen. Welche Mechanismen von Ein- und Ausschluss gibt es? Welche Formen von Exotisierung? Was die Studentin uns doch sagen will: Wir sind Teil der bundesdeutschen Gesellschaft und werden in Alltagssituationen immer wieder zurückgeworfen auf unsere Hautfarbe, auf stereotypische Merkmale. Das müssen wir ernst nehmen, deshalb die Petition.

Kostner: Aber wie wirkt sich dieses Vorgehen auf die Freiheit der Lehre aus? Werden Lehrende mit einer Schere im Kopf agieren, um nicht zur Zielscheibe von Aktivisten zu werden? Vor allem, um das Thema Rassismus aufzugreifen: Wie frei können Lehrende unterschiedliche wissenschaftliche Konzepte von Rassismus behandeln, wenn die Gefühle von Studierenden das Maß aller Dinge sind?

Konkret, was wäre eine Aussage, die im akademischen Zusammenhang inakzeptabel ist, weil rassistisch, Frau Hentges?

Hentges: „Der Islam gehört nicht zu Deutschland.“ Oder die Rede von kriminellen Ausländern, von kriminellen Flüchtlingen. Die Frage nach der Gewalttätigkeit von Jugendlichen mit Migrationshintergrund ... Generell die Reproduktion von Stereotypen.

Ist „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“ eine wissenschaftliche Hypothese?

Hentges: Der Anlass war in diesem Fall, dass ein Student in einer Veranstaltung einer Kollegin gebetsmühlenartig vorgetragen hat, der Islam gehöre nicht zu Deutschland. Daraufhin fragten dann die Studierenden: Gehören wir also auch nicht zu Deutschland? Sie fühlten sich angegriffen.

Um was ging es in dem Seminar?

Hentges: Um postkoloniale Theorie und um die Kölner Silvesternacht.

Was hat die Kölner Silvesternacht in diesem Kontext zu suchen?

Hentges: Die Kölner Silvesternacht ist mittlerweile Gegenstand zahlreicher Studien zum antimuslimsichen Rassismus respektive der Feindlichkeit gegenüber Musilmen und somit Gegenstand der universitären Lehre . Wenn man in einer wissenschaftlichen Veranstaltung eine Position vertritt wie die, der Islam gehöre nicht zu Deutschland, sollte man das anhand von Studien belegen können. Das hat die Dozentin dem Studenten klargemacht.

Kostner: Nicht jede Aussage, über die man an Universitäten diskutiert, kann oder muss durch Studien belegbar sein. Universitäten gelten ja nicht umsonst als der Marktplatz der Ideen. Zumal es unterschiedliche Studien gibt. Nehmen wir den Satz: „Der Islam gehört bzw. gehört nicht zu Deutschland.“ Wer sich einfach daran orientiert, welche Religionsgemeinschaften in Deutschland vorkommen, wird die Frage natürlich mit „ja“ beantworten. Wer hingegen historisch forscht, um aufzuzeigen, wie prägend der Islam für die Entwicklungen in Deutschland war, wird sich schwertun, den Islam als prägende Kraft auszumachen. Und wer sich der Frage widmet, welche Werte für unser freiheitlich-demokratisches Gemeinwesen konstitutiv sind, wird die Frage, ob der Islam zu dieser Wertebasis gehört, kaum mit „Ja“ beantworten können. Ich war nun nicht bei dem Seminar dabei, ich kann mich aber an einen Artikel aus Sicht des Studenten erinnern, der nahelegte, dass sich der Student ausgegrenzt fühlte. Es gibt diverse Formen der Ausgrenzung.

Hentges: Weder wurde die Person ausgegrenzt noch die Position. Der Student wurde tatsächlich aufgefordert, sich wissenschaftlich zu informieren. Es gibt ja ganz viel Forschung zum Islam, zu den Muslimen, es gibt eine Sinus-Studie zu türkischen Migranten ... Der Student hat dann auch bis zur letzten Sitzung an dem Seminar teilgenommen. Und meinte sogar, dass er viel gelernt hat.

Zu den Personen

Sandra Kostner studierte Geschichte und Soziologie, Promotion in Sydney. Sie arbeitet als Migrationsforscherin an der PH Schwäbisch Gmünd. Zuletzt erschien: Identitätslinke Läuterungsagenda. Eine Debatte zu ihren Folgen für Migrationsgesellschaften (Ibidem 2019)

Foto: Imago Images

Gudrun Hentges ist Professorin für Politikwissenschaft, Bildungspolitik und politische Bildung an der Universität Köln. Sie ist Mitglied der Forschungsstelle für interkulturelle Studien (FiSt) und Vertrauensdozentin der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Uni Köln

Also, ich möchte gerade nicht Dozent in kulturwissenschaftlichen Seminaren sein ... Ausgrenzung hier, Freiheit der Lehre da …

Hentges: Es ist in der Tat ein schmaler Grat, auf dem ich mich als Dozentin bewege. Ja, Universitäten sind der Ort, an dem Studierende etwas auszuprobieren können und im wissenschaftlichen Rahmen auch mal steile Thesen formulieren dürfen. Zugleich habe ich aber auch die Verantwortung, vulnerable Gruppen zu schützen.

Sind vulnerable Gruppen das, was man früher als Minderheiten bezeichnet hätte?

Hentges: Der Begriff der Minderheiten ist unspezifisch. „Vulnerable Gruppen“ verweist auf deren Verletzbarkeit. Gemeint sind von Rassismus betroffene Menschen, die verbalen oder körperlichen Angriffen ausgesetzt sind. Geflüchtete sind aufgrund ihrer traumatischen Erfahrung im Herkunftsland und auf der Flucht eine besonders vulnerable Gruppe. Es gibt auch Mehrfachdiskriminierung, sodass Rassismus und LGBTIQ gemeinsam diskutiert werden müssen.

Ist es denn keine gute Sache, Diskriminierungen zu bekämpfen, Frau Kostner?

Kostner: Doch, aber es ist mir hier einfach zu paternalistisch gedacht. Wenn ich Gruppen als vulnerabel bezeichne und ihnen deshalb nicht zutraue, sich mit Argumenten auseinanderzusetzen, die sie als verletzend empfinden könnten, dann verhalte ich mich wie eine Helikoptermutter, die genau zu wissen meint, was das Beste für das unmündige Kind ist. Stattdessen sollte doch die Resilienz von Studierenden gestärkt werden, damit sie nicht jedes Argument, das ihnen missfällt, gleich als Angriff auf ihre Person sehen.

Hentges: Ja, es ist wichtig, Individuen zu stärken, Resilienzen zu entwickeln. Das passiert ja auch in zahlreichen Workshops, Gesprächen, Trainings. Stichwort Empowerment. Es soll Menschen in Situationen, in denen sie diskriminiert, ausgegrenzt oder verletzt werden, handlungsfähig zu machen. Ungeachtet dessen halte ich es für richtig, vulnerable Gruppen so zu schützen, dass ihnen bestimmte Erfahrungen von Retraumatisierung schlicht erspart werden.

Wie sieht das konkret aus?

Hentges: Zum Beispiel durch Trigger-Warnungen, die Sie, Frau Kosnter, in Ihren Publikationen kritisch betrachten. Häufig ist es etwa gar nicht erforderlich, bestimmte Bilder zu zeigen. Muss man Lynchmorde, die sich in den Südstaaten der USA ereignet haben, zeigen, um deutlich zu machen, was Sklaverei bedeutet? Ich glaube nicht. Und doch geschieht es. Mit der Konsequenz, dass sich im Hörsaal Personen befinden, die schockiert sind oder schlimmstenfalls retraumatisiert werden.

Kostner: Von Retraumatisierung zu sprechen, finde ich problematisch. Hier wird ein klinischer Begriff, der ein selbst erlebtes Trauma voraussetzt, einfach auf jede emotionale Betroffenheit angewendet, um der Forderung nach Schutz Nachdruck zu verleihen.

Frau Hentges, ich möchte bei Ihnen in Köln ein Seminar anbieten zur „Ästhetik des Schreckens im Film“. Da werden grauenhafte Bilder gezeigt. Was raten Sie mir?

Hentges: Also, „Ästhetik des Schreckens im Film“ ist ja keine verpflichtende Veranstaltung, dann werden sich nur diejenigen anmelden, die damit keine Probleme haben. Natürlich ist es oft eine Gratwanderung. Denken Sie an die Auseinandersetzung mit der Shoah. Was kann man, was muss man zeigen? Die Antwort liegt in der Verantwortung eines jeden und einer jeden Lehrenden.

Wenn ich an mein Studium denke, war Betroffenheit nichts, was uns geprägt hätte. Man fühlte sich eher Denkschulen verbunden, hat entsprechende Kurse besucht und andere gemieden.

Hentges: Das deckt sich mit meinen Erinnerungen. Aber auch wenn Betroffenheit nicht im Vordergrund stand, so habe ich mich doch in vielen Veranstaltungen gefragt, wo denn eigentlich die Frauenperspektive bleibt? Also haben wir dafür gekämpft, diese Perspektive zu stärken. Mit Erfolg. Dagegen waren Rassismuskritik und Dekolonialisierung kaum ein Thema. Diese Debatten begannen erst Anfang der 1990er Jahre, recht zaghaft, mit Übersetzungen aus dem Französischen und Englischen.

Und richtig groß wurde die Debatte erst jetzt.

Hentges: Ja, unsere Beispiele stammen aus den letzten drei Semestern. Insofern möchte ich vermeiden, dass wir das überbewerten. Es ist ja keineswegs so, dass Rassismus in allen Lehrveranstaltungen in jeder Woche ein Thema und ein Problem ist. Vielmehr ist der Regelfall eine offene, kontroverse Lehre, wo man auch mal „advocata diabola“ spielen wird.

Da würden Sie jetzt nicht widersprechen wollen, Frau Kostner?

Kostner: Nein, ich finde diesen offenen Diskursraum sehr wichtig. Er muss immer wieder aufs Neue verteidigt werden. Der Grund ist, dass Menschen dazu neigen, sich in intellektuellen und emotionalen Komfortzonen einzurichten. Unsere Aufgabe als Lehrende ist auch, Studierende aus diesen Komfortzonen zu holen, sie mit unangenehmen Positionen zu konfrontieren.

Aber Ihre eigene Haltung sollte dabei klar sein, oder?

Kostner: Was für eine Haltung soll das denn sein? Ich illustriere das mal an einem Beispiel aus meinem Lehralltag. Am Semesterende sagten Studierende vor einiger Zeit zu mir: „Normalerweise weiß man bei Dozenten, woran man ist. Bei Ihnen nicht. Das ist zwar irgendwo befreiend, aber eben auch verunsichernd.“ Das war für mich ein Lob. Lob, weil ich ganz bewusst versuche, Lehrinhalte neutral aufzubereiten, um Studierende nicht zu manipulieren ....

Hentges: ... Das ist sicherlich gut, aber im Begriff der Neutralität lauert auch eine Gefahr. Ja, wir als Lehrende sollten Studierende nicht indoktrinieren und sie nicht überwältigen. Aber das bedeutet nicht, dass wir zu Neutralität verpflichtet sind. Das ist AfD-Jargon. Siehe deren Meldeplattform „Neutrale Schule Hamburg“. Und Sie interpretieren den Beutelsbacher Konsens aus dem Jahr ’76 ...

… der die politischen Prinzipien des Unterrichts festlegte …

Hentges: ... dahingehend falsch, dass Sie behaupten, Lehrkräfte seien zur politischen Neutralität verpflichtet. Das Gegenteil ist richtig. Wer einen Blick ins Beamtengesetz wirft, kann lesen, dass Beamtinnen und Beamte, und demnach auch Hochschullehrerinnen, verpflichtet sind, für Werte im Sinne der freiheitlich-demokratischen Grundordnung einzutreten. Für Menschenrechte, für Bürgerrechte, für Rechtsstaatlichkeit, für religiöse Toleranz, gegen Rassismus, gegen Diskriminierung.

Kostner: Ich habe auch nicht gesagt, dass Lehrende zur Neutralität verpflichtet sind, sondern dass ich versuche, Inhalte neutral zu vermitteln, das ist ein Unterschied!

Angenommen, ich möchte mich mit einer Arbeit in Politikwissenschaft promovieren, die darlegt, dass Diktaturen besser mit einer Pandemie umgehen können als eine Demokratie. Darf ich das?

Hentges: Selbstverständlich.

Aber meine Arbeit wird zu dem Schluss kommen, dass Bürgerrechte und Rechtsstaatlichkeit bei der Bewältigung der Krise womöglich hinderlich sind.

Kostner: Das ist durch die Wissenschaftsfreiheit gedeckt.

Hentges: Es ist ja eine ganz präzise formulierte Frage. Welche Staatsform ist effizienter hinsichtlich der Bekämpfung einer Pandemie? Das sagt nichts Prinzipielles aus über Gewaltenteilung, nichts Prinzipielles aus über die Versammlungsfreiheit, über Gleichberechtigung der Geschlechter …

Aber konform ist dieser Ansatz nicht. Ich hänge noch ein wenig an dem Begriff des Konformismusdrucks. Ist ein solcher Druck nicht fatal für freies Forschen?

Hentges: „Freies Forschen“ selbst ist eine Illusion, würde Pierre Bourdieu sagen. Die Wissenschaft ist durchdrungen von Macht- und Herrschaftsstrukturen. Erst daraus lässt sich ableiten, was überhaupt als ein „Forschungsthema“ und Problem anerkannt wird.

Gibt es so gesehen gar keinen Konformitätsdruck? Weder der Mehrheit auf die Minderheit noch der Minderheiten auf eine Mehrheit?

Hentges: Konformitätsdruck ist für mich der falsche Ausdruck. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive würde ich eher von ungleicher Diskursgewalt sprechen. Im Übrigen stehen sich hier keineswegs Mehrheiten und Minderheiten als starre Blöcke gegenüber. Wichtig wäre in einer postkolonialen Perspektive, zu erkennen, dass Minderheiten nur aufgrund von Macht- und Verteilungskämpfen in spezifischen Kontexten zu Minderheiten geworden sind.

Kostner: Wenn wir von einem von einer Mehrheit erzeugten Konformitätsdruck sprechen, dann geht es um die dominierende Sichtweise und davon abweichende Sichtweisen. Ob eine Sichtweise zur dominanten wird, hängt von der Zusammensetzung der Personen ab, die im Seminarraum eine Diskursgemeinschaft bilden. Menschen nehmen ja nicht aufgrund eines demografischen Mehrheits- oder Minderheitenmerkmals eine bestimmte Sichtweise ein. Ansonsten müssten ja alle Menschen mit einem bestimmten Merkmal die gleiche Sichtweise haben. Dass es dominante Sichtweisen gibt, ist kein Problem. Worauf es ankommt, ist, dass wir offen mit abweichenden Sichtweisen umgehen. Leider ist dies keine Selbstverständlichkeit. Und dafür sind in den vergangenen Jahren zunehmend Aktivisten verantwortlich, die sich selbst vulnerablen demografischen Gruppen zurechnen oder als deren Fürsprecher agieren. Sie versuchen, ihre Sichtweise gegenüber Mehrheiten durchzusetzen, indem sie einen Konformitätsdruck erzeugen. Also jeden als Rassisten, Sexisten, Islamophoben usw. bezeichnen, der ihre Sichtweise nicht teilt.

Aber dass es Rassisten, Sexisten und Islamophobe gibt, würden auch Sie nicht in Abrede stellen?

Kostner: Nein, natürlich nicht. Natürlich gibt es Rassisten und Sexisten und auch Muslimfeindlichkeit.

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Geschrieben von

Michael Angele

Ressort Debatte

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hängte er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fussball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

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