Elias Canetti wusste es!

Coronakrise Die Menschenmenge nimmt uns die Angst, schrieb der Schriftsteller in „Masse und Macht“. Dumm nur, dass es gerade keine Massen geben darf. So bleibt: die Angst
Ausgabe 18/2020
Wo ich bin, ist die Masse?
Wo ich bin, ist die Masse?

Foto: H. Armstrong Roberts/Retrofile/Getty Images

Die Zeit vor Corona war durch eine überraschende Rückkehr der Masse als eines politischen Faktors geprägt. Die „Fridays for Future“-Bewegung revitalisierte das in die Jahre gekommene Instrument der großen Demonstration. Das Idol der Massen, Greta Thunberg, heizte den Mächtigen dieser Welt ein, und man muss schon etwas zynisch sein, um auf die Idee zu kommen, dass ihr im sympathischen Ermatten der Kräfte der Ausbruch der Pandemie gerade recht kam.

So wie es aussieht, wird sie genügend Zeit zur Erholung haben. Demonstrationen wie „Fridays for Future“ wird es erst wieder geben, wenn es einen Impfstoff gibt, und auch das, was jetzt zum 1. Mai erlaubt sein wird, bleibt symbolische Tat. Aber auch ins Fußballstadion werden wir erst wieder pilgern können, wenn der Impfstoff da ist.

Bis dahin wird es darum gehen, die Masse an ihrem, wie Elias Canetti sagen würde, natürlichen Drang zur Ausdehnung zu hindern. Wer Canettis 1960 erschienenes Hauptwerk Masse und Macht jetzt liest, entdeckt einen intimen Zusammenhang mit einer Pandemie, nicht nur wegen der quasi viralen Eigenschaften von Massen. Unterhalb beispielsweise der politischen Codierung einer Demonstration ist die Masse ist in Canettis Augen nämlich auch die Befreiung des Menschen von einem alten Fluch, seiner tiefen Angst vor „Berührung durch Unbekanntes“. Es ist „die Masse allein, in der der Mensch von (seiner) Berührungsfurcht erlöst werden kann“.

2020 mag es auch andere Mittel geben, die, wie Canetti meint, anthropologische Angst vor dem Kontakt mit Unbekanntem zumindest temporär zu überwinden, Drogen zum Beispiel, oder therapeutische Angebote. Aber wenn man den Masse-Begriff weit genug auslegt, und das tut Canetti, ihn etwa schon in der Nutzung von Fussgängerzonen ansiedelt, dann wird man leicht einsehen, dass etwas Grundlegendes für eine moderne Gesellschaft fehlt – der Historiker Serge Moscovic sprach vom "Zeitalter der Massen".

Die große Zahl

Entlastung in Massenbegegnungen ist in der Pandemie nicht möglich, es sei denn, man setzt auf Herdenimmunität! Und so erneuert sich ein Zusammenspiel von Angst und Masse, das die Moderne und ihre Überwindungsversuche kennzeichnet. Gewiss war die NSDAP vor 1933 eine Massenpartei. Allerdings galt es nach der Machtübernahme, Massen so in stabile Formen zu bringen, dass sie die Macht nicht nur nicht bedrohten, sondern sie sogar bekräftigten. Siehe Leni Riefenstahls Film Triumph des Willens.

Deutschland 2020 ist wahrlich kein faschistischer Staat. Doch es regiert abermals die Angst. Die Angst ist die vor einer großen Zahl von Toten. „Die Menschen sind Zeugen des großen Sterbens, es spielt sich zunehmend vor ihren Augen ab. Sie sind wie die Teilnehmer an einer Schlacht, die länger dauert als alle bekannten Schlachten.“

Canetti hatte hier das Massensterben durch die Pest im Sinn. Covid-19 ist nicht die neue Pest, aber da Angst sich ausbreiten will, auch sie also endemisch ist, verfangen solche Beschwichtigungen bei vielen Menschen nicht. Im Gegenteil, sie werden aggressiv. Sie werden es, weil sie mit ihrer Angst nicht im Reinen sind. Angst ist unangenehm. Und gefräßig. Angst nährt sich von Angst.

Karl Lauterbach

Unterbrochen wird dieser Kreislauf nur schwer, es reicht der Bericht von einem schweren Krankheitsverlauf bei einem jungen Mann ohne Vorerkrankung, zack, ist sie wieder da. Oder Karl Lauterbach warnt einmal mehr davor, die Schulen zu öffnen oder ans Fußballspielen auch nur zu denken, zack, ist sie da und verstärkt sich noch, wenn er sagt, einen Impfstoff werde es erst in zwei Jahren geben – „wenn überhaupt“.

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Steckt hinter der Sorge also die quälende Angst vor einer großen Gefahr – und hinter der Gelassenheit jenseits von politischen Zuschreibungen ("Neoliberalismus" etc.) schlicht das gute Gefühl, die Sache durchschaut zu haben und den Mechanismus der Angst von der Sache unterscheiden zu können? Das wäre zu einfach. Die Psychologie unterscheidet zwar zwischen Realangst und neurotischer: Aber wer vermag zu sagen, wo bei dieser Pandemie die eine aufhört und die andere anfängt?

Zwar nicht von den Viren, aber von den Bazillen glaubte Canetti zu wissen, dass sie die Wiedergänger der toten Teufel sind.

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Geschrieben von

Michael Angele

Ressortleiter „Debatte“

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hing er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fußball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

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