Die Zeit vor Corona war durch eine überraschende Rückkehr der Masse als eines politischen Faktors geprägt. Die „Fridays for Future“-Bewegung revitalisierte das in die Jahre gekommene Instrument der großen Demonstration. Das Idol der Massen, Greta Thunberg, heizte den Mächtigen dieser Welt ein, und man muss schon etwas zynisch sein, um auf die Idee zu kommen, dass ihr im sympathischen Ermatten der Kräfte der Ausbruch der Pandemie gerade recht kam.
So wie es aussieht, wird sie genügend Zeit zur Erholung haben. Demonstrationen wie „Fridays for Future“ wird es erst wieder geben, wenn es einen Impfstoff gibt, und auch das, was jetzt zum 1. Mai erlaubt sein wird, bleibt symbolische Tat. Aber auch ins Fußballstadion werden wir erst wieder pilgern können, wenn der Impfstoff da ist.
Bis dahin wird es darum gehen, die Masse an ihrem, wie Elias Canetti sagen würde, natürlichen Drang zur Ausdehnung zu hindern. Wer Canettis 1960 erschienenes Hauptwerk Masse und Macht jetzt liest, entdeckt einen intimen Zusammenhang mit einer Pandemie, nicht nur wegen der quasi viralen Eigenschaften von Massen. Unterhalb beispielsweise der politischen Codierung einer Demonstration ist die Masse ist in Canettis Augen nämlich auch die Befreiung des Menschen von einem alten Fluch, seiner tiefen Angst vor „Berührung durch Unbekanntes“. Es ist „die Masse allein, in der der Mensch von (seiner) Berührungsfurcht erlöst werden kann“.
2020 mag es auch andere Mittel geben, die, wie Canetti meint, anthropologische Angst vor dem Kontakt mit Unbekanntem zumindest temporär zu überwinden, Drogen zum Beispiel, oder therapeutische Angebote. Aber wenn man den Masse-Begriff weit genug auslegt, und das tut Canetti, ihn etwa schon in der Nutzung von Fussgängerzonen ansiedelt, dann wird man leicht einsehen, dass etwas Grundlegendes für eine moderne Gesellschaft fehlt – der Historiker Serge Moscovic sprach vom "Zeitalter der Massen".
Die große Zahl
Entlastung in Massenbegegnungen ist in der Pandemie nicht möglich, es sei denn, man setzt auf Herdenimmunität! Und so erneuert sich ein Zusammenspiel von Angst und Masse, das die Moderne und ihre Überwindungsversuche kennzeichnet. Gewiss war die NSDAP vor 1933 eine Massenpartei. Allerdings galt es nach der Machtübernahme, Massen so in stabile Formen zu bringen, dass sie die Macht nicht nur nicht bedrohten, sondern sie sogar bekräftigten. Siehe Leni Riefenstahls Film Triumph des Willens.
Deutschland 2020 ist wahrlich kein faschistischer Staat. Doch es regiert abermals die Angst. Die Angst ist die vor einer großen Zahl von Toten. „Die Menschen sind Zeugen des großen Sterbens, es spielt sich zunehmend vor ihren Augen ab. Sie sind wie die Teilnehmer an einer Schlacht, die länger dauert als alle bekannten Schlachten.“
Canetti hatte hier das Massensterben durch die Pest im Sinn. Covid-19 ist nicht die neue Pest, aber da Angst sich ausbreiten will, auch sie also endemisch ist, verfangen solche Beschwichtigungen bei vielen Menschen nicht. Im Gegenteil, sie werden aggressiv. Sie werden es, weil sie mit ihrer Angst nicht im Reinen sind. Angst ist unangenehm. Und gefräßig. Angst nährt sich von Angst.
Karl Lauterbach
Unterbrochen wird dieser Kreislauf nur schwer, es reicht der Bericht von einem schweren Krankheitsverlauf bei einem jungen Mann ohne Vorerkrankung, zack, ist sie wieder da. Oder Karl Lauterbach warnt einmal mehr davor, die Schulen zu öffnen oder ans Fußballspielen auch nur zu denken, zack, ist sie da und verstärkt sich noch, wenn er sagt, einen Impfstoff werde es erst in zwei Jahren geben – „wenn überhaupt“.
Besser schnell was von Streeck googeln!
Steckt hinter der Sorge also die quälende Angst vor einer großen Gefahr – und hinter der Gelassenheit jenseits von politischen Zuschreibungen ("Neoliberalismus" etc.) schlicht das gute Gefühl, die Sache durchschaut zu haben und den Mechanismus der Angst von der Sache unterscheiden zu können? Das wäre zu einfach. Die Psychologie unterscheidet zwar zwischen Realangst und neurotischer: Aber wer vermag zu sagen, wo bei dieser Pandemie die eine aufhört und die andere anfängt?
Zwar nicht von den Viren, aber von den Bazillen glaubte Canetti zu wissen, dass sie die Wiedergänger der toten Teufel sind.
Kommentare 5
Fürchtet euch nicht! Der Weihnachtsappell seit 2000 Jahren! Nix da, lass mich in Ruhe, mit meiner Angst. Paul Watzlawick empfiehlt sich gerade jetzt als Lektüre: "Anleitung zum Unglücklichsein." Klasse statt Masse. Nix da again, Masse ist Klasse! Angst essen Seelen auf, Angst, der schlechteste Ratgeber. Alles bekannt. Na dann is ja jut!
Erfahren wir z.Z. nicht die Steuerung der politischen Angst?
Ist Trump nicht ein Angstbazillus?
Aus der politischen Perspektive könnte man verstehen, dass Chinas Politik einerseits verantwortungsbewußt nicht in Lichtgeschwindigkeit seinen sanktionierenden Todfeind Trump noch anfeuern wollte oder konnte und dabei den Schutz der eigenen Bevölkerung zu vernachlässigen! Trump bagatellisierte und will seine Hände in Unschuld desinfizieren.
Die Lichtgeschwindigkeit des amerikanischen Lügenbarons hat auch noch nicht gezeigt, was er getan und bewirkt hätte, wenn er einige Tage früher etwas vermutbares erfahren hätte!
Klasse, dass sie den alten Klassiker zu Wort kommen lassen, Herr Angele. "Masse und Macht" ist immer noch ein Fund- und Findbuch, das vor allem meine eingerostete Assoziationsfähigkeit und Sensibilität für Massenphänome ernorm steigert.
Canetti selbst, Sie beziehen sich ja auf die einleitenden Kapitel, hielt sein Werk für systematisch. Das Kapitel zur Epidemie, mehr gegen Ende, fordert uns auf Thukyidides zu lesen, der die Pest kannte und treffend in der Beschreibung bannte.
Am Ende, so fasst es Canetti zusammen, wird aus der Angst vor dem gänzlich Unbekannten, die Furcht vor dem erkannten Gegner. Er schließt sich des Griechen Kriegsanalogie an. Ganz am Ende, bei dem antiken Historiker sind es Monate, bis zu einem Jahr, steht der Triumph der Überlebenden.
Canetti schreibt: >>Solche Leute, sagt Thukydides, fühlten sich über ihre Genesung so gehoben, daß sie meinten, sie könnten auch in Zukunft nie mehr an einer Krankheit sterben.<< - Die nächste Epidemie kann und wird kommen. Unbeachtet bleiben die Endemien, die jedes Jahr Millionen Leben fordern und ebenso besiegbar wären.
Mit der Analogiebildung "Fridays for future" und Canettis Massen- und Meutentypologie, tat ich mir schwer, bis ich im Kapitel >>Langsamkeit oder die Ferne des Ziels<<, folgendes las:
>>Zur langsamen Masse, gehört die Ferne des Ziels. (...)Die langsame Masse hat die Form eines Zuges.<<
Das ist, so finde ich, genial formuliert. - Nun meinte Canaetti, liest man weiter, vor allem religiöse Zugmassen, Pilger, Wallfahrten, Prozessionen. Diesen langsamen Massen, die ein (religiöses) Ziel kennen, können sich nicht entladen
Nichtsdestotrotz, trifft auf FFF zu, die >>Ziele in der Ferne müssen an Bedeutung gewinnen, die der Nähe müssen immer mehr an Gewicht verlieren...<<. >>Es gehört zur Verfassung solcher Pilger, dass viel Raum für Erlebnisse gewöhnlicher Art bleibt, die mit dem Sinn der Fahrt an sich gar nichts zu tun haben.<<
Zur Bestätigung:
>>Die langsame Masse hat die Form eines Zuges. Sie kann von Anfang an aus allen bestehen, die zu ihr gehören, wie beim Auszug der Kinder Israel aus Ägypten. Ihr Ziel ist das gelobte Land, und sie sind eine Masse, solange sie an dieses Ziel glauben. Die Geschichte ihrer Wanderung ist die Geschichte dieses Glaubens. <<
Nochmals vielen Dank, für diese Anregung
Christoph Leusch
Lieber Christoph Leusch, ja die Fundgrube "Masse und Macht". Da hat jeder so seine Lieblingsstelle. Ihre ist die mit dem Zug, mein Liebling sind die Ausführungen zu Daniel Paul Schreber. Die habe ich in meine Diss (auf Mikrofiche:)) in Extenso eingearbeitet. .. Da hat er ja auch den großen Gedanken vom Triumph des Führer als dem einzig Überlebenden her...
Ich habe natürlich meine Vorbehalte, gegen die Gleichsetzung der Paranoia und des Größenwahns, mit dem Verhalten jener stinknormalen Allmachtsdiktatoren, die sich Völker/Massen/Deutsche erwählen oder denen sie akklamieren, bis alles in Scherben fällt.
Die Verschwörer waren für Schreber immer um ihn und in der Welt. Hitler hatte, weil er sich instinktiv mit dem Seelenbräu in unserem Ländchen gut auskannte, trotz des offensichtlichen Attentats Georg Elsers, erstaunlich wenig Furcht vor Attentätern.
Aber auch mit Bezug auf die psychische Erkrankung, sei es Paranoia, sei es das Delirium Tremens, mit der "Massenerfahrung" taktiler Angreifer (Dermatozoenwahn), findet Canetti kurze Sprachformeln, die einfach passen.- Dieses Talent hätte ich gerne.
Der Willen zur Sprache und zur treffenden Formel Canettis, er zieht magisch an. Die "Denkwürdigkeiten" sind ihm ein gefundenes Fressen. Aber auch der Mittelteil, mit den vielen ethnologischen Verweisen, bei denen es auch um das Auffressen, das Einverleiben und Töten, als Einverleibungsritual, geht, sind brilliant.
Vielleicht fällt dem dF ja einmal so eine Fortsetzungsgeschichte der "Haidnischen Alterthümer" ein. Bücher, die fast verschollen sind, aus dem historischen 20. Jahrhundert, aber gelesen werden sollten, als Flaschenpost an uns Nachgeborene.
Aus Angst, z.B. an einem unsichtbaren und neuen Virus zu versterben, muss Furcht werden. Die ist rational und fixiert das Gegenüber. Dann kann die Gefahr gebannt oder ertragen werden.
Auf der wichtigeren Ebene, der des Klimawandels und der weiter wachsenden Umweltvernichtung, hindert noch die absolute Größe und die Zeitdimension. So fällt es leicht, das "Gretchen", den eigenen Nachwuchs und die paar Wissenschaftler als Angststifter und Geschäftsleute in eigener Sache zu verunglimpfen, die, das macht den Unterschied, mit einer rationalen Furcht aufwarten und dafür bereit sind lange Wege zu ziehen.
Nur das Beste
Christoph Leusch