Friedrich Küppersbusch kritisiert Talkshows im Ukraine-Krieg: „Prinzip Kasperletheater“

Interview Der Medienexperte Friedrich Küppersbusch kritisiert, wie die deutschen Medien den Ukraine-Krieg begleiten
Exklusiv für Abonnent:innen | Ausgabe 26/2022
Friedrich Küppersbusch kritisiert Talkshows im Ukraine-Krieg: „Prinzip Kasperletheater“

Illustration: der Freitag

Wer in Berlin lebt, nimmt Friedrich Küppersbusch nicht zuletzt als scharfzüngigen Kommentator bei Radio Eins wahr. Da kommentierte er neulich die Rolle der deutschen Medien im Ukraine-Krieg. In Berlin sitzt aber auch die TV-Produktionsfirma probono, die der überzeugte Ruhrpottler damals mit Alfred Biolek gegründet hat und die heute unter anderem Gysi & Schmidt – der ntv-Rückblick produziert. Genauer liegt die Firma in der Glinkastraße, benannt nach dem russischen Komponisten Michail Iwanowitsch Glinka, ein trauriger Scherz über eine möglicherweise bevorstehende Umbenennung ist da schwer zu vermeiden.

der Freitag: Herr Küppersbusch, wie nehmen Sie die deutsche Kriegsberichterstattung wahr?

Friedrich Küppersbusch: Natürlich ist das erstens eine Katastrophe, zweitens ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg und drittens, für uns, eine asymmetrische Bedrohung. Herz und Mitgefühl überdröhnen Ratio und Abwägung. Wir sind, moralisch, Kriegspartei. Dann aber stellt sich die Frage: Wie sieht das Gesamtbild aus? Das Interesse daran ist schon sensationell gering.

Ich stelle in vielen Medien eine Bereitschaft zur rhetorischen Eskalation fest. Nehmen Sie die Rede von der „Deportation“ ukrainischer Staatsbürger durch die Russen.

Die werden schon deportiert, würde ich sagen. Das ist der Fachbegriff.

Ein Fachbegriff, der zugleich schwere Assoziationen weckt.

Das ist sicher Absicht. Es ist ja inzwischen zum ceterum censeo jedes Krieges geworden. Saddam Hussein war irgendwann Hitler, Milošević irgendwann Hitler. Der polnische Staatspräsident sagt, wer mit Putin telefoniert, hätte damals auch mit Hitler telefoniert. Und umgekehrt baut die russische Propaganda ja auf die absurde These von der Entnazifizierung und dass in Kiew die Nazis herrschten.

Mal ein Beispiel für rhetorische Eskalation. Wir lasen von fürchterlichen Massenvergewaltigungen. So berichtete der „Spiegel“ von 25 jungen Frauen aus Butscha, die von Russen in einem Keller vergewaltigt wurden, neun davon seien nun schwanger. Es gibt schwere Kriegsverbrechen durch die Russen, daran habe ich keinen Zweifel, aber in diesem Fall stellte sich heraus, dass er von der damaligen Menschenrechtsbeauftragten Ljudmyla Denissowa frei erfunden war. Und das war nicht die einzige Erfindung.

Das ist die neue Brutkasten-Lüge, ne? Ansonsten feministisch kämpferische Stimmen im Spiegel verhöhnen auch den Sohn der Verteidigungsministerin als „Muttersöhnchen“, ältestes Chauvi-Klischee. Gerade recht, um die Politik der Mutter zu desavouieren.

Nun muss man den ukrainischen Medien hoch anrechnen, dass sie über die Lügen der Denissowa berichtet haben. Daraufhin hat das Parlament sie entlassen. Das heißt, dass die Ukraine selbst in der schrecklichen Lage, in der sie sich befindet, in diesem Fall demokratisch funktioniert hat. Zu berichten wäre also gut. Aber hielt es der „Spiegel“ für notwendig? Hat er sich sogar in seiner Aussage zu dieser Massenvergewaltigung korrigiert? Nein.

Das am Anfang ja löbliche „Diese Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen“ unter den Beiträgen ist inzwischen oft ein schales Alibi, denn nun kann ich umgekehrt jeden Bullshit weitergeben, weil ich ja den Satz drunterschreib. Was mich erschreckt, ist die Haltung einer Medienlandschaft – das ist jetzt harte Kollegenschelte, aber einer muss es machen –, die so tut, als wäre sie schon zum Wehrdienst eingezogen. (Manchmal hülfe es doch, vor der „Senden“-Taste noch mal zu schauen, was die NATO-Pressestelle an diesem Werkstück anders gemacht hätte. Wenn nichts – weiß man das.)

Das würde doch bedeuten, dass es eine Art Zensur in Deutschland gibt. Aber die gibt es ja nun nicht.

Es ist komplizierter. Die deutsche Medienlandschaft ist ja kritisch. Punkt. Sie kritisiert zu wenig Waffen, zu wenig Sanktionen, zu wenig Boykott, zu wenig Geld. „Wir haben doch den Scholz gegrillt, wir lassen es doch dem Lindner nicht durchgehen“: In ihrem Selbstverständnis sind die Kolleginnen und Kollegen durchaus kritisch.

Sie sind kritisch und mit dem Herzen dabei, das verstärkt sich ungemein und hat auch die Regierungspolitik natürlich nicht unbeeindruckt gelassen.

Ja, inzwischen hat man ja Angst, dass Olaf Scholz bei jeder Baumarkt-Eröffnung noch einmal die Grundzüge seiner Politik erklärt und niemand ihn zum Beispiel fragt, was er mit Putin beredet. Wo sind denn die roten Linien? Ein Bundeskanzler, der sich darüber nicht Rechenschaft ablegte, handelte komplett verantwortungslos. Darüber reden wir aber nicht, sondern wir fragen ihn immer nur: Wann kommen denn die Leos? Und warum kommen nicht mehr? Audiatur et altera pars, die journalistische Grundpflicht: Gibt es eine Debatte über weniger Waffen, weniger Sanktionen? Nein, gibt es nicht, denn da fängt eigentlich schon die Putin-Versteherei an. Gibt es eine Debatte, wie es zu diesem Krieg kam? Nein, gibt es nicht. Wir sind gefangen im Agenda Setting „Kriegführung“. Der Kanzler soll fehlerfrei den Satz sagen „Die Ukraine muss den Krieg gewinnen“. Interessiert es uns auch, ob er sagen könnte: „Die Ukraine soll den Frieden gewinnen“? Auch wenn man hundertmal nicht darüber reden will, ob die NATO jetzt die Russen provoziert hat. Du wirst am Ausgang genau das wieder hören von den Russen.

Vielleicht ist es aber auch gar nicht richtig, Scholz zu fragen, was er mit Putin bespricht, weil das die Öffentlichkeit nichts angeht. Warum musste man die Liste der Waffenlieferungen an die Ukraine öffentlich machen? Warum ist die Bundesregierung da eingeknickt? Meine These wäre: Es gibt ein an sich ja gutes, aber völlig aus dem Ruder gelaufenes Verständnis von Aufklärung im Journalismus. Wie sehen Sie das?

Das lese ich als Verbeugung der Regierung vor dem medialen Powerplay. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages gab im März einen Sachstand bekannt: Mit der Live-Lieferung von Aufklärungsdaten, AWACS in Geilenkirchen und der Ausbildung ukrainischer Soldaten – Idar-Oberstein, Grafenwöhr – seien wir völkerrechtlich bereits im Graubereich des Kombattanten-Status. Scholz ist inzwischen knapp mehr präsent als die Mainzelmännchen – aber diese Fragen an ihn habe ich nicht gehört.

Sie würden also für weniger Emotionen plädieren?

Es ist ja nun leider nicht der erste Krieg, an dem wir unmittelbar emotional Anteil nehmen. Auch in Serbien hat es die KZs nicht gegeben, die sich irgendwelche PR-Agenturen zusammengeschustert haben, aber auch Herr Scharping ist rumgelaufen mit Fotos von erbärmlich hungernden Menschen, und auch da war mein Herz schneller als mein Verstand. Und bei der Krim-Besetzung hat die ARD einen Asow-Trupp, noch mit Wolfsrune am Ärmel, als demokratische Freiheitshelden abgefeiert. Aber immerhin hat der wunderbare Kollege Thomas Roth damals noch eine lange Entschuldigung gesprochen in den Tagesthemen. Das war 2014, wir waren gewarnt. Wenn Sie jetzt die Redaktion der Tagesschau, die wirklich sehr gut arbeitet, auf diese Dinge ansprechen, dann heißt es: Wissen wir doch alles.

Mit welchen Folgen, in Ihren Worten?

Unabhängig von der fast kompletten Diskriminierung jeder Form von Pazifismus haben wir jetzt erste Ergebnisse des bewaffneten Menschenrechtstums, wie es von Annalena Baerbock, Robert Habeck und mehr noch von Hofreiter, Anton vorgetragen wird. Selenskyj hat in seiner ersten Fernsehansprache nach dem völkerrechtswidrigen Angriff der Russen gesagt: Wir haben keine Angst, über Autonomie zu reden, wir haben keine Angst, über Sicherheitsgarantien zu reden. Das war im Prinzip ein Edding-Strich unter Minsk II. Inzwischen aber sagt er wie ein gedopter Boxer: Schickt mir mehr. Man möge ihm nicht mit „Minsk III“ kommen, und man wolle die Krim zurückerobern. Was immer Pazifismus oder Diplomatie bis hierhin angerichtet hätten: Das jedenfalls ist das, wozu unser Hurra-Journalismus mit beiträgt. Da gäbe es nun die dringende Frage an die deutsche Bundesregierung: Checkt ihr mit der russischen Seite, wie weit wir gehen werden bei unserer Unterstützung für die Ukraine, und versucht ihr, die rote Linie zu finden und diesseits von ihr zu bleiben? Das ist die eine Ebene.

Zur Person

Friedrich Küppersbusch wurde 1961 geboren und in den 1990er Jahren bekannt mit der WDR-Politsendung ZAK. Heute sitzt er unter anderem im Beirat des Grimme-Instituts und macht Küppersbusch TV auf Youtube. Er lebt mit Sabine Brandl und zwei Kindern in Dortmund

Und die andere?

Viele sagen, mit Putin sei nicht mehr zu reden, der dämonisiert sich schneller, als es die westliche PR schafft. Aber du wirst dich irgendwann historisch verantworten müssen. Noch mal das Anfangsszenario: Wir halten uns für kritisch, denn wir haben doch mehr Waffen gefordert. Diese Waffe endet immer in der Hand eines ukrainischen Frontsoldaten, und dann ist alles gut. Aber nur scheinbar. Denn die Kugel, die da vorne aus der Waffe rauskommt, endet in der Stirn eines 18-jährigen, dummen russischen Jungen, der dachte, es ginge ins Manöver. Wo ist da unsere Verantwortung?

Verantwortung wird doch ganz anders verstanden. Die Medien wären Waffenlieferungen gegenüber vielleicht kritischer, gäbe es nicht dieses Narrativ: Wenn wir jetzt nicht massiv liefern, wird Putin den nächsten Schritt gehen. Wenn nicht heute, dann morgen. Und am Ende sind wir alle dran. Deswegen sind Forderungen nach einem raschen Frieden aus dieser Perspektive verantwortungslos. So denkt Frau Baerbock im Einklang mit weiten Teilen der Presse und fast ganz Polen oder Litauen. Die gute Gesinnung ist verantwortungsethisch abgedeckt. Wie sehen Sie das?

Der Tumormarker darin ist das Wort „Narrativ“. Das Gegennarrativ von der gefräßigen NATO kriegen Sie beim Kauf einer Flasche Wodka dazugeschenkt. Im westlichen Narrativ bin ich persönlich schuld, wenn der heldenmütige ukrainische Soldat ohne Waffe in der Hand dasteht. Die Frage nach der persönlichen Schuld, wenn er den Russen wegbläst, findet innerhalb des Narrativs nicht statt.

Das ist schlimm. Aber tun wir es nicht, radiert Putin ein ganzes Volk aus. Und damit verglichen sind die Opfer, die jetzt auch diese 18-jährigen russischen Soldaten erbringen müssen, hinzunehmen. So das Argument.

Dann also Chomsky: Die Amerikaner bekämpfen die Russen bis zum letzten Ukrainer. Uns wird es, wenn wir all das liefern, hinterher vor Gott oder vor unserem Gewissen nicht helfen, zu sagen: Der Herr Melnyk wollte das, oder: Der Selenskyj wollte das. Wir müssen das aus uns heraus erklären und verantworten können.

Was bedeutet das dann für die journalistische Arbeit? Sie sind ja vom Fach. Wer darf, wer soll es uns erklären?

Schauen wir auf die nach wie vor wichtige Münze der öffentlich-rechtlichen Polit-Talkshows. Da hatte Frau Maischberger mit Klaus von Dohnanyi jemanden gefunden, wo man sagt, der ist so alt, der hat so viel Erfahrung, der ist ein rechter Sozialdemokrat. Also lass ihn mal ausreden. Im Notfall kann man immer noch sagen: 94, senil. Dass da auch eine kluge Fernsehproduzentin in ihr sitzt, die denkt, wenn es einen Shitstorm gibt, ist es gut für die Einschaltquote, so zynisch sind wir alle. Also das findet schon mal statt.

Klaus von Dohnanyi war praktisch der einzige „Russlandversteher“, den man sich noch leisten wollte.

Bevor das eskalierte mit diesem neuen kalten, jetzt ja heißen Krieg, hatten sie einmal die Woche Fritz Pleitgen, Klaus Bednarz, Gabriele Krone-Schmalz, Thomas Roth und noch ein paar andere als Russland-Erklärer geladen. Weil es halt eine sicherlich auch angstgeladene Verliebtheit der Deutschen in Russland gibt. Da sind die beiden Weltkriege, die Dämonie der DDR, das große Geschenk der Wiedervereinigung und so weiter. Frau Krone-Schmalz ist bei ihrer Linie geblieben. Die war noch einmal zum Ohrfeigen-Abholen bei Lanz, das war es.

Stimmt es eigentlich, dass die Sendung in „Lanzer“ umbenannt werden soll? Sie sind im Betrieb ja gut verankert.

Nein, in „Lieferung schwerer Lanzen“. Ich bin ein großer Fan von diesem Ur-Trecker Lanz Bulldog. Wie der Lanz Bulldog angeworfen wird, würde ich als Vorspann zur Sendung machen.

Es gibt in Talkshows einen Besetzungs-Koeffizienten, der lautet: drei zu eins, vier zu eins, fünf zu eins.

Ja, natürlich. Zufriedenheit im Rundfunkrat, es war sehr ausgewogen. Jedenfalls: Fritz Pleitgen durfte dann im WDR 5 mal was sagen, wahrscheinlich, weil er doch zu viel versteht. Aber sonst. Klaus Bednarz ist tot, Thomas Roth sagt nichts. Aber dieses Rollenfach des Russlandverstehers, im guten Sinne, ist aus den Talkshows verschwunden.

Es gibt halt auch keinen neuen Scholl-Latour.

Der konnte vor zehn Jahren bei Alfred Schier auf Phoenix brummend erklären, „also das Günstigste, das Günstigste für die Ukraine wäre eine Föderation. Das ist ein Vielvölkerstaat, die vertragen sich untereinander bedingt. Es wird immer ein russisches Sicherheitsinteresse geben und eine russische, höflich gesagt, Partnerschaft für die russischen Ukrainer. Es gibt einen polnischen Anteil, manche fühlen sich noch über das alte Habsburg, K.-u.-K.-Regime, nach Österreich oder zum Westen zu Deutschland verbunden.“ So, das erzählt Scholl-Latour lässig, und der ZDF-Kollege, den ich sehr schätze, sitzt da in respektvoller Andacht, angstfrei. Das müssen Sie sich heute bei Youtube suchen, immerhin findet man es da.

In den Talkshows fehlen auch die Russen, die ihr Land erklären können. Der MDR hat ein hochinteressantes Interview mit dem Moskauer Politologen Alexander Kynew geführt. Der sagt zum Beispiel: Auch in meinem Umfeld ist niemand für den Krieg, aber jeder fühlt sich durch diese Sanktionen in Mithaftung genommen. Das hat ungute psychologische Auswirkungen. Ich sag’s euch nur. So einer wäre doch interessant.

Es ist schon so, dass die Freundinnen und Freunde, die ich in öffentlich-rechtlichen, aber auch in den privat-kommerziellen Sendern habe, gucken, wen man holen könnte. Wer wird mir auch im Haus nicht aus der Planung geschossen, weil es heißt: Putin-Liebchen? Da muss man große Expertise haben, weil die schiere Behauptung: Der lebt in Russland und lehrt an der Universität …

Und sieht übrigens telegen aus. Es ist ja nur ein Anfangsverdacht, dem man nachgehen könnte …

Könnte man, aber im Zweifel buchen die safe. Sie müssen wissen: Eine Talkshow funktioniert nach dem Prinzip des Kasperletheaters: Hänsel und Gretel, der Zauberer, das Krokodil. Hänsel und Gretel waren im politischen Spektrum früher CDU und SPD, oder es sind mal die Grünen und die FDP. Die wollen das Gleiche, nur einmal Karamell und einmal Vanille. Der Zauberer ist der Experte, der so unfassbar unabhängige und wissenschaftlich unanfechtbare Weisheiten mitbringt wie Hans-Werner Sinn oder Ralf Fücks.

Oder Frau Major.

Ja, und das Krokodil ist dann von Alice Schwarzer über Trixie von Storch bis hin zu Herrn Melnyk.

Ist der ukrainische Botschafter Melnyk in den Talkshows wirklich das Krokodil? Ist er nicht was zwischen Hänsel, Zauberer und Krokodil?

Er kommt im Kittel des Experten daher, ich jedenfalls würde ihn nur als Krokodil besetzen. Ich staune, dass jemand kritikfrei durchgereicht wird – der, in seinen Worten, „vom Grabe unseres Helden Stephan Bandera“ grüßt und in dessen diplomatischem Dienst der ukrainische Konsul in Hamburg, Wassil Maruschinetz, stand, der offen faschistisch war.

Wer wie Melnyk von „russischen Horden“ twittert und nicht von, was verständlich wäre, „Arschlöchern“ oder „Schweinen“, ist meines Erachtens selbst nicht mehr weit davon, ein Faschist zu sein.

Okay, dann so: Herr Melnyk, es gibt diesen Tweet, wo Sie einen Kriegsverbrecher verherrlichen. Sie waren zwei Jahre Vorgesetzter eines Faschisten. Sie haben inzwischen gesagt: Nein, im Moment hasse ich alle Russen. Sie sind irgendwie eine problematische Figur. Und können wir auch mal darüber reden, dass die Menschen in Lwiw, wo ihr verehrter Herr Bandera mitverantwortlich für den Mord an 3.000 Juden war, ganz anders ticken als in Donezk oder Luhansk? Welches Land vertreten Sie eigentlich?

Der Kollege Feldenkirchen hat ihn neulich im „Spiegel-Spitzengespräch“ mit Bandera und dessen Judenhass konfrontiert. Allerdings hat er vergessen, nachzufragen, als Melnyk einfach nicht darauf eingegangen ist. In einem Land, wo jede verdächtig gebogene Haarnadel einen antisemitischen Skandal auslösen kann, finde ich das erstaunlich. Etwas anderes: Sie haben einen spannenden Film über PR und Krieg gemacht. Seit dem nigerianischen Bürgerkrieg ist das ein Geschäft für Agenturen. Aber glauben Sie tatsächlich, dass jemand wie Selenskyj und sein Stab diese Agenturen brauchen?

Ich glaube, dass dieser Verbund von über 150 PR-Agenturen weltweit, die sich unter #weareukraine und #standforukraine zusammengefasst haben, auch ein offenes Bewerbungsverfahren ist. Die US-Agentur Hill+Knowlton, die im Irak-Krieg die „Brutkasten-Lüge“ verbrach, ist mit dabei. Dieser Verbund sagt ganz offen: Es gebe eine höhere Wahrheit als die der Fakten – nämlich die der Narrative. Bei Selenskyj fallen mir immer zwei Bilder ein. Das erste: Die Firma Brainpool würde die deutsche Bundesregierung übernehmen. In der Ukraine ist es ja so: Der Produzent der TV-Serie Diener des Volkes mit Selenskyj in der Hauptrolle ist der erste Präsidentenberater und Manager der maltesischen Briefkastenfirma, die in den Pandora Papers auftaucht, als Vermögensverwalterin von Selenskyj und seinen Leuten. Der Geschäftsführer der Produktionsfirma von Selenskyj, Kvartal 95, Ivan Bakanov, ist Chef des ukrainischen Geheimdienstes. Wenn ich mir jetzt vorstelle, Günther Jauch, Sandra Maischberger und Anne Will ... Also bei Günther Jauch waren wir immer nah dran, dass wir wussten, egal wer als Bundespräsidenten-Kandidatin antritt, Günther würde gewinnen.

Und das zweite?

Denken wir uns für eine halbe Minute einen russischen Führer, der cool ist, volles Haar hat, emotional zu sprechen versteht, klare Worte findet und auch drumrum entsprechend gemanagt ist. Und ein dicker, hässlicher, blöder Poroschenko oder ... you name it ... säße in Kiew an ramschigen Resopal-Tischen und würde mit 70er-Jahre-Telefonen hantieren. Was würde passieren mit uns, mit unserem Lesen dieses Konflikts?

Da braucht man aber viel Fantasie.

Ja, aber das ist die Äquidistanz, und da gilt der Grundsatz: Freunde, stellt es euch immer mal umgekehrt verpackt vor. Also die Russen wären genial und professionell in ihrer Öffentlichkeitsarbeit und Selenskyj wäre ein Stümper wie Putin. Ein Anachronist eigentlich, eine Erzählung wie aus den 1970er Jahren. Das ist das eine Werkzeug.

Und das andere?

Das wäre tatsächlich: Sei skeptisch gegen jedermann! Das große Hanns-Joachim-Friedrichs-Wort. „Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten Sache.“ Das bröselt allerdings schon da, wo Friedrichs das selber nicht gemacht hat und sich mokierte, man habe ihm in einem unbeobachteten Moment ein SPD-Parteibuch in die Rocktasche gesteckt und er habe es halt behalten. Dennoch finde ich den Spruch nach wie vor extrem hilfreich.

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Geschrieben von

Michael Angele

Ressortleiter „Debatte“

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hing er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fußball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

Michael Angele

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