Konservatives Denken, das bedeutet doch: Traditionen bewahren, in Bindungen leben. Was aber, wenn ein Katholik sich von den Missbrauchsskandalen beeindrucken lässt? Was, wenn Religion als Fundament konservativen Denkens wackelt und unter den Druck einer „Kultur des Regenbogens“ gerät? Was, wenn der Fortschrittsglaube auf die ökologische Sorge trifft – wie lässt sich dann ein modernes konservatives Denken gestalten? Und wie lässt sich dieser Konservatismus angesichts der Erfolge der AfD von rechtem Denken unterscheiden? Der Historiker Andreas Rödder versucht in seinem Buch Konservativ 21.0. Eine Agenda für Deutschland Antworten zu geben.
Zur Person

Foto: Sven Simon/Imago
Andreas Rödder, Jahrgang 1967, studierte Geschichte und Germanistik in Bonn und Tübingen. Er ist ordentlicher Professor für Neueste Geschichte mit dem Schwerpunkt Internationale Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
der Freitag: Lieber Herr Rödder, sagt man eigentlich Konservativismus oder Konservatismus?
Andreas Rödder: Das, lieber Herr Angele, kommt ganz darauf an. Wenn Sie eine sehr distanzierte Haltung zu dem Gegenstand haben, reden Sie tendenziell eher von Konservativismus, dann machen Sie es kompliziert. Wenn Sie dem Ganzen etwas zugeneigter sind, dann machen Sie es einfacher und sprechen von Konservatismus.
Jetzt bringen Sie mich in einen Gewissenskonflikt, denn ich würde mich natürlich als wertkonservativ verstehen.
Das ist der Trick von Erhard Eppler aus den 1970er Jahren, den Winfried Kretschmann wiederholt hat.
Sehr gut! Jedenfalls meine Vorstellungen von Konservatismus haben Sie in Ihrem Buch „Konservativ 21.0“ durcheinandergebracht. Können Sie kurz erläutern, was genau Sie unter „liberal-konservativ“ verstehen?
Konservatives Denken macht sich dadurch bemerkbar, dass es keine fixen Inhalte hat; es ist eine Frage der Haltung, aus der Inhalte hervorgehen. Gemeint ist eine Haltung der gesunden Skepsis gegenüber theoretischen Selbstgewissheiten des Denkens in Kategorien von Erfahrung, von Pragmatismus, von Maß und Mitte – anstelle von Utopie und Modellen. Und eine Politik, die der Gesellschaft den Vorrang vor staatlicher Intervention gibt und im Grunde auf dem Subsidiaritätsprinzip aufbaut. Daraus können Sie eine ganze Reihe von konkreten Schlussfolgerungen ableiten, was die Wirtschaftspolitik angeht, die Sozialpolitik oder auch die Gesellschaftspolitik.
Warum sahen Sie dieses Denken mal in Friedrich Merz verkörpert?
Von einem Friedrich Merz hätte ich mir vorgestellt, dass er eine Politik betreibt, die auf Eigenverantwortung gründet und zugleich aber auf Subsidiarität beruht. Das heißt, Eigenverantwortung zu erwarten und in dem Moment, wo das Individuum diese Eigenverantwortung nicht ausführen kann, die staatliche Solidarität einzusetzen – in dieser Reihenfolge. Das ist durchaus etwas anderes als das, was wir weithin mit sozialstaatlicher Interventionspolitik erleben.
Ihr Faible für Pragmatismus und Ihre Ablehnung von Ideologie erinnern an Helmut Schelsky und sein Buch aus den 1950er Jahren, „Die skeptische Generation“. Schelsky hat dieses Denken nicht in einen geschichtslosen Raum gestellt, sondern als Lehre aus dem Dritten Reich entwickelt, man könnte auch sagen, es ist Ausdruck einer Generation von früheren Mitläufern des Dritten Reiches. Vielleicht hat ja auch Ihr Pragmatismus eine historisch-mentalitätsgeschichtliche Ursache.
Das würde ich nicht zwingend so sehen. Konservatives Denken ist grundsätzlich skeptisch gegenüber den großen Entwürfen und ideologischen Selbstgewissheiten. Diese Skepsis gründet in einem Menschenbild, das von der Unvollkommenheit des Menschen ausgeht, sich an dieser Stelle übrigens mit einem christlichen ebenso wie mit einem humanistischen Menschenbild verbindet. Und es hat die Erfahrung internalisiert, dass das, was wir heute für unverrückbar richtig halten, uns morgen schon als falsch erscheinen kann – und umgekehrt. Deshalb ist der Glaube an unverrückbare ideologische Gewissheiten gerade nicht konservativ. Und daher war die Nähe der konservativen Revolution zum Nationalsozialismus auch der Sündenfall des Konservatismus. So gesehen hat die skeptische Generation bei Schelsky natürlich etwas Kompensatorisches oder Nachholendes.
Analog dazu wäre Ihr konservatives Denken vielleicht als ein später Reflex auf die 68er-Generation zu begreifen. Auch wenn Sie sich anders als andere konservative Denker nicht durch aggressive Distanznahme von den 68ern profilieren müssen.
Das ist, glaube ich, eine generationelle Frage. Tatsächlich ist es so, dass ein moderner, liberaler bundesdeutscher Konservatismus seine intellektuelle Fundierung auch erst in den 70er Jahren gewonnen hat, und zwar in der Reaktion auf die „68er“, ähnlich wie Edmund Burke in der Reaktion auf die Französische Revolution. Dafür stehen nicht nur Helmut Schelsky, sondern insbesondere Hermann Lübbe, aber auch Odo Marquard oder Robert Spähmann und die Intellektuellen im operativen politischen Geschäft: Hans Maier, Kurt Biedenkopf und Heiner Geißler. Die 1970er waren schon die große Zeit einer intellektuellen Fundierung eines liberalen Konservatismus. Der Vorwurf, dass er sich nach der Abgrenzung von 1968 eigentlich nicht weiterentwickelt hat, ist allerdings nicht ganz falsch.
Und was müsste ein Konservatismus, der sich weiterentwickelt hat, heute tun?
So wie der liberale Konservatismus eines Hermann Lübbe auf die 68er reagiert hat, wäre es heute wichtig, eine liberal-konservative Gegenposition gegen die polarisierende Moralisierung rechts und links zu formulieren: gegen die Moralisierung des Eigenen aufseiten der politischen Rechten, wie sie sich in der AfD niederschlägt, und gegen die Moralisierung des Anderen durch eine Kultur des Regenbogens, deren Betreiben von Antidiskriminierung und Diversität, Gleichstellung und Inklusion Züge repressiver Toleranz gewonnen hat.
Ich habe den Eindruck, dass Sie hier eine weit offene Tür noch mal ein bisschen öffnen, wenn es um die Zumutungen der Hypermoral geht. Für mich stellt sich primär die Frage, ob sich dieser neue Konservatismus in Fragen der Ökologie bewährt. Ist das ökologische Denken nicht im Grunde genommen ein konservatives? Bewahrung der Schöpfung, oder sagen wir es moderater, ein Leben nicht mehr so krass gegen die Natur, wie es die Moderne gekennzeichnet hat; das alles geht weit über den Klimawandel hinaus, den Sie beschreiben.
Sie erlauben, dass ich kurz historisch ansetze, weil sich hier ein paar Dinge in der Geschichte der Bundesrepublik auf eigentümliche Weise verdreht haben. Der Konservatismus der Bundesrepublik hatte über lange Zeit eine stark technologiefreundliche, geradezu technokratische Komponente. Hier wirkte ein technokratischer Konservatismus der „Sachzwänge“ weiter, der nach 1945 versuchte, sich als „unpolitisch“ verstehend weiterzuexistieren. Das ist auch in CDU und CSU eingeflossen – denken Sie an den berühmten Satz von Franz Josef Strauß, konservativ sei, an der Spitze des Fortschritts zu marschieren, womit er explizit den technologisch gesehenen Fortschritt meinte. Und diese Spitze des Fortschritts, das war in den fünfziger und sechziger Jahren die Kernkraft – womit die Union in den 1970er Jahren den Anschluss an die entstehende Umweltbewegung verpasste.
Ich meine, Atomenergie ist ja nun wirklich kein konservatives Essential, insofern war Angela Merkels jäher Ausstieg eine nachgeholte Korrektur ...
Nein, wirklich nicht, das lässt sich eben nur historisch erklären. Hinzu kommt noch etwas anderes: In den 1970ern entsteht die Umweltbewegung und ein Umweltdiskurs, der vonseiten der neuen sozialen Bewegungen immens ideologisch aufgeladen worden ist. Wir können das in den 1980er Jahren schon bei den Debatten um den sauren Regen und das Waldsterben beobachten, die, wie wir heute wissen, absolut überzogene, auch wissenschaftlich nicht wirklich fundierte Debatten gewesen sind, bei denen sich hinterher dann herausgestellt hat, dass ihnen etwas Hysterisches anhaftete.
Es ist ja ein sehr nobler Zug, dass Sie in Sachen Waldsterben, gerade auch in Ihrem Buch, nicht nachgetreten haben. Denn das ist wirklich der GAU für eine links-ökologische Apokalyptik.
Ja, aber es ist nicht nur nobel. Im selben Moment, wo ich die Hysterie erkenne, muss ich auch sagen, dass das, was man an Reaktionen auf diese Debatte unternommen hat – Entschwefelungsverordnungen, Katalysatorpflicht usw. –, sehr viel Positives bewirkt hat. Ich finde, hier kann man den Wert der epistemischen Skepsis des Konservativen erkennen, der weiß, dass wir nicht alles genau wissen. Wenn man dies ins Offene wendet, hat es ein politisches Potenzial, das nicht im Ressentiment ausläuft. Einerseits würde ich also sagen, dass eine absolute Ideologisierung dieses Themas vorliegt, die ich nicht mitgehen würde; Konservative wollen keine neue Welt erschaffen. Andererseits aber lehrt uns die Debatte um das Waldsterben, dass man besser mehr als weniger tut. Alles in allem würde ich eben wieder eine pragmatische konservative Haltung beziehen und mich nicht auf den Alarmismus einer Greta Thunberg oder eines Hans Joachim Schellnhuber, Gründer des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, einlassen, wohl aber bereit dazu sein, viel und auch mehr zu tun, als man eigentlich hätte tun wollen.
Gilt das, was Sie für die Grünen sagen, auch für links? Als Konservativer sind Sie natürlich nicht für einfache Gleichheitsmodelle zu begeistern. Und doch findet man in Ihrem Buch einige Spurenelemente des linken Denkens. Auch Sie haben eine Gerechtigkeitslücke festgestellt. Vermögen werden in Deutschland viel zu gering besteuert, wohl nicht nur, wenn man sie mit der Einkommensteuer vergleicht.
Ich würde da erst mal keinen Widerspruch sehen. Realpolitische Ausschläge ins leicht Linke und Konservative müssen einander nicht widersprechen. Ich finde, wenn Sie sich als Konservativer auf den Standpunkt stellen, dass Sie Ideologisierungen vermeiden wollen, dann müssen Sie sich konsequenterweise immer selbst hinterfragen, wo Sie selbst ideologisieren. Und worum ich mich ja wirklich bemühe, das ist ein offener Konservatismus, der auch die eigenen Blindstellen in Frage stellt. Insofern würde ich sagen, dass das Thema Vermögensbesteuerung und Besteuerung von Arbeitseinkommen eine Gerechtigkeitsfrage tangiert, wo sich Linke und Konservative treffen können – im Übrigen habe ich da auch nicht das konservative Copyright drauf, das hat Paul Kirchhof auch schon gesagt.
Nun ist das konservative Denken, so wie ich es verstanden habe, auf starke Bindungen aus. Damit meine ich Bindungen zum Staat einerseits, zur Familie, zu einer transzendenten Ordnung andererseits. Ich finde dieses Bindungselement in Ihrem Buch nicht besonders exponiert. Die Religion spielt praktisch keine Rolle, der Staat soll, Stichwort Ordoliberalismus, nur in Maßen eingreifen, und so was wie Nation kommt gar nicht vor. Ich frage mich, aus welchen emotionalen Quellen sich Ihr Konservatismus speist.
Da benennen Sie vielleicht tatsächlich eine Schwäche dieses Buchs, die sich aber auch mit einer Problemdiagnose verbindet. Was Religion angeht, sind wir tatsächlich in einer außerordentlich schwierigen Situation. Und wenn Sie, so wie ich, Katholik sind, dann sind die letzten zehn Jahre an Ihnen auch nicht spurlos vorübergegangen. Da haben sich Selbstverständlichkeiten aufgelöst. Zugleich glaube ich wie Ralf Dahrendorf, dass die Existenz von Bindungen, Ligaturen innerhalb einer Gesellschaft wichtig sind. Aber ich zögere, sie so aufzustellen, dass sie sich gleich wieder ideologisieren. Ich schreibe von Familien, bürgergesellschaftlichem Engagement, vorstaatlichen Institutionen, aber Sie haben recht, das kommt alles nicht wahnsinnig emphatisch daher – am ehesten vielleicht mein Plädoyer für ein „family mainstreaming“. Und ich glaube, dass wir eine Leitkultur brauchen – im Sinne von Alltagserwartungen, die über die Verfassung und über Recht und Gesetz hinausgehen, die aber nicht die Frage stellen: Was ist deutsch?, sondern: Wer ist Bürger? Wir brauchen eine inklusive Leitkultur und keine exkludierende.
Bei dieser „bürgergesellschaftlichen Leitkultur“ muss es einem Konservativen alten Schlags doch grauen. Sie verstehen darunter größtmögliche Offenheiten. Also in der Form zwar verbindlich, aber im Inhalt offen. Streite im Gespräch auszutragen, Respekt, Höflichkeit im Umgang miteinander. Ist das denn nun wirklich konservativ?
Dann nennen Sie es eben liberal, aber nicht libertär. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: die Frage des Umgangs mit Kindern. Die deutsche Gesellschaft hat sich in den letzten fünfzig Jahren einen völlig anderen Umgang mit Kindern angewöhnt. Wir gehen heute mit ihnen partnerschaftlich und nicht mehr autoritär um, wie das noch in den 1960er Jahren der Fall war. Jetzt können Sie vielleicht sagen, du als Konservativer hättest doch vor 60 Jahren auch anders geredet. Und dann würde ich sagen: ja, das stimmt, aber Sozialdemokraten und Liberale auch. Ein aufgeklärter Konservatismus aber kennt die eigene Paradoxie, heute zu verteidigen, was er gestern für falsch gehalten hat. Wie es Quintin Hogg einmal gesagt hat: Konservatismus ist die Kanonisierung der Häresie im Namen der Tradition. Das heißt aber ...
Das müssen Sie wiederholen.
Die Kanonisierung der Häresie im Namen der Tradition. Dagegen ließe sich einwenden, dann sei doch alles beliebig. Sie können aber auch sagen, genau darin liegt der Kern der Menschenfreundlichkeit von konservativem Denken: Es hat die Wandelbarkeit unserer Überzeugungen in die eigenen Auffassungen miteingepreist und zwingt Konservative, zu begründen. Und das heißt eben auch die Leitkultur. Hier gilt auf der einen Seite, dass es mit einem reinen Rekurs auf die Verfassung oder auf die Gesetze nicht getan ist. Das hält eine Gesellschaft nicht zusammen. Eine deutsche Leitkultur in dem Sinne, dass Sie den deutschen Wald lieben müssen, ist aber andererseits natürlich auch nicht gemeint. Wir haben eine Mehrheitsgesellschaft, und es ist auch in Ordnung, dass es eine Mehrheitsgesellschaft gibt. Aber die muss eben offen sein für diejenigen, die Bürger im Land sein wollen. Ob Sie das nun als konservativ etikettieren oder als liberal – ich halte es für eine zukunftsfähige, begründete Position. Und das ist mir wichtiger als ideologische Markierung.
Dabei schwingt ja jetzt etwas stark mit, fragen wir also ganz ausdrücklich: Was grenzt denn Ihr konservatives Denken von rechtem Denken ab?
Es gibt auf der einen Seite die Grenze dessen, was in unserer öffentliche Debatte sagbar und legitim ist. Diese Grenze wird markiert durch den Artikel 1 des Grundgesetzes, die Wahrung der Menschenwürde, die Grenze zum völkischen Denken und die Grenze zur Leugnung des Holocausts. Und dann, würde ich sagen, unterscheidet sich konservatives Denken von einem reaktionären Denken in der Frage des Kulturpessimismus. Es gibt rechte Untergangsszenarien, oder besser: Untergangsfantasien. Man kann schon habituell sehr deutlich spüren, wo die Grenze ist, weil dieses Denken nicht offen ist und sehr schnell bei Verschwörungstheorien landet, wo Sie keine Argumente mehr austauschen können. Ein demokratischer liberaler Konservatismus muss sich durch diese Offenheit für den Austausch von Argumenten bewähren. Das gilt für den Konservatismus nach rechts, das gilt aber übrigens nach links genauso.
Nun gibt es ein liberales Denken, das sagt: keine Toleranz für die Intoleranz. Der Spruch wurde ja sogar von Henryk M. Broder geprägt. Wenn Sie nun also das rechte Denken als ein intolerantes identifizieren – wie muss dann der Konservative damit umgehen? Konkret politisch gesprochen.
Konkret politisch gesprochen komme ich auf die Grenze zurück, die ich gerade eben genannt habe. Also jenseits der Grenze, wo die Würde des Menschen nicht mehr zählt, zum nationalistisch völkischen Denken, zur Leugnung des Holocausts, haben Sie mit dem Mittel einer demokratischen Öffentlichkeit keinen Zugang mehr. Da sind wir an dem Punkt, wo der Rechtsstaat gefordert ist. Diesseits dieser Grenze bin ich mit Timothy Garton Ash ein großer Verfechter von „robuster Zivilität“ in der öffentlichen Diskussion. Und ich glaube, diese Grenze verläuft ja mitten durch die AfD selbst. Ja, interessanterweise verläuft sie mitten durch die Person Alexander Gauland hindurch.
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