Es gibt gute Gründe, die bevorstehende Weltmeisterschaft links liegen zu lassen. Wie schwierig allerdings so ein Boykott werden könnte, wenn man es ernst damit meint, hat Susanne Berkenheger im Freitag (Ausgabe 45/2022) in einer witzigen Kolumne durchgespielt. Besonders knifflig wird es für den eingefleischten Fan. Wie weit soll er gehen? Reicht es, die Spiele nicht zu schauen, oder müsste man nicht sogar auf die Kenntnisnahme der Resultate verzichten?
Leichter dürfte ein radikaler Verzicht erst mal jenen Menschen fallen, die sich für Fußball nicht oder nur während einer Welt- oder Europameisterschaft interessieren. In der Fachsprache nennt man letztere „main eventer“. Diese Gruppe bekam großen Zulauf bei der Weltmeisterschaft in Deut
isterschaft in Deutschland, mit der das Public Viewing populär wurde. Dieser wichtige Faktor im „Sommermärchen“ von 2006 dürfte sich 2022 nicht wiederholen. Es ist November, die Biergärten sind zu. Das trübt die Vorfreude bei vielen mindestens so wie die Menschenrechtslage in Katar (wenn sie ehrlich sind).Nun findet eine Weltmeisterschaft nicht nur auf öffentlichen Plätzen statt, sondern in allen möglichen Medien, primär auch in den sozialen Netzwerken. Sie sagen dir, worüber du mitzureden hast: Eine Studie der European Club Association (ECA) hat herausgefunden, dass 27 Prozent der „main eventer“ zu den „Fomos“ zählten. Das ist eine Gruppe, die sich für eine WM primär interessiert, weil sie von der „Fear of missing out“ getrieben wird, von der Angst, etwas zu verpassen. Wie groß wird diese Angst in den kommenden Wochen sein?Natürlich kann man eine WM auch einfach alleine vor dem Bildschirm still und konzentriert bewältigen und jede Geselligkeit als störend empfinden. Wenn auf der einen Seite der Skala des Fußballkonsums der „main eventer“ mit seinem Drang zum Mitreden steht, dann auf der anderen Seite der manische Datensammler, der sein Wissen zur Not auch geheim halten könnte. Je mehr sich jemand für Fußball interessiert, desto mehr läuft er Gefahr, zum autistischen Zahlenfetischisten zu werden. Die Mehrheit der Fans findet sich natürlich irgendwo in der Mitte einer solchen Skala wieder. Diese Menschen lesen hin und wieder ein Buch über Fußball, vor allem, wenn sie es zum Geburtstag geschenkt bekommen („Was schenken wir ihm nur?“ „Er interessiert sich doch für Fußball.“ „Stimmt, schau doch mal bei Amazon.“). Für diese Menschen scheint Christoph Biermann sein neues Buch geschrieben zu haben, dem obige Statistik der ECA entnommen ist.Biermann hat eine lange Karriere als Sportredakteur hinter sich, zuletzt bei den 11 Freunden, er ist Verfasser etlicher origineller und kenntnisreicher Bücher zum Thema. Anders als seine letzten Werke Matchplan. Die neue Fußball-Matrix und Wir werden ewig leben: Mein unglaubliches Jahr mit dem 1. FC Union Berlin hat Um jeden Preis keinen besonderen Dreh. Biermanns wahre Geschichte des modernen Fußballs beruht auf einer simplen These: Der professionelle Fußball wurde in den vergangenen dreißig Jahren auf allen möglichen Ebenen zu einer Ware gemacht, Biermann spricht darum lieber von „Kommodifizierung“ als geläufig von Kommerzialisierung. Der Warencharakter des modernen Fußballs erklärt einerseits unser Unbehagen, andererseits auch unsere anhaltende Faszination – trotz dieses Unbehagens. Denn die Kommodifizierung des Fußballs hat uns nicht nur zum Beispiel gesichtslose Stadien mit so albernen Namen wie „PreZero Arena“ und nun natürlich Katar eingebrockt, um es salopp zu sagen, sie hat den Fußball auch zu einem schnelleren, variantenreicheren, technisch hochstehenden Spiel gemacht, was das Publikum jüngst in der nachgeholten Modernisierung des Frauenfußballs wie durch einen Zeitraffer beobachten konnte.Auch die Weltmeisterschaft ist eine solche „Ware“ geworden, zumindest was ihre Vermarktung anbelangt. Angefangen hatte es mit dem Brasilianer João Havelange, intensiviert wurde es durch seinen Walliserschweizer Klon Sepp Blatter, vollendet durch Blatters Walliserschweizer Klon Gianni Infantino, der neuerdings in Doha, der Hauptstadt des WM-Ausrichters, wohnt.Ihrem „Geist“ nach ist eine Weltmeisterschaft aber immer noch nicht ganz kommodifiziert, hier spielt man idealerweise nicht „zum Gelderwerb für seinen Verein, sondern ehrenvoll für sein Land“. Praktisch heißt das heute, dass die Spieler nicht ganz so viel verdienen. Für Zahlenfreaks: 50.000 Euro bekommt jeder Spieler der deutschen Nationalmannschaft für den Gruppensieg in Katar, für das Erreichen des Viertelfinales gibt es 100.000, 400.000 für den Titel. 1954 gab es gerade mal 2.500 Mark, einen Fernseher und einen Lederkoffer. 1974 konnte der Spieler dann schon 35.900 und ein Auto einheimsen, bei der WM in Russland 2018 schließlich 350.000 Mark Siegprämie.Turbofußball ist unprofitabelWas man jenseits dieser Zahlen begreifen muss: Der Turbofußball will und will einfach nicht profitabel werden. Biermann belegt das eindrücklich an der britischen ersten und vor allem an der zweiten Liga, der „Championship“, „ökonomisch sicherlich der verrücktesten Liga der Welt“. Man könnte nun weitermachen mit dem gescheiterten Financial Fairplay und der drohenden Super League.Vor dem Hintergrund der Entwicklung, die Biermann erzählt, und mit dem Wissen, das er entfaltet, kann man zur anstehenden Weltmeisterschaft aber auch diese These wagen: So beschissen sie sein mag, so weicht die WM in Katar doch immer noch ein wenig von der Entwicklung in den nationalen Ligen ab. Zunehmend ist es dieses Korrektiv, das die Menschen an eine Weltmeisterschaft fesselt, und immer weniger die Aktivierung eines thymotischen Großgefühls wie dem des Nationalstolzes.Natürlich spielt die Bindung immer noch eine Rolle. Aber bei den diversen migrationsgeschichtsgesättigten Teams ist es zunehmend auch der Umstand, dass sich da ein Spieler überhaupt bindet, der uns emotional bei der Stange hält. Zwischen den Nationalteams kann man nicht wechseln, das verbieten die Regularien noch, zwischen Vereinen dauernd, etwa in Form von „Wechselgerüchten“, was den enormen Erfolg von transfermarkt.de begründet.Auch steht nicht von vornherein fest, wer die Weltmeisterschaft gewinnen wird. Bei den Buchmachern ist Brasilien Favorit, Deutschland steht „nur“ auf Platz 6, allerdings bei einer nur doppelt so hohen Gewinnquote. Anders die Bundesliga, dort ist Bayern München der Konkurrenz so enteilt, dass es in einem vertraulichen Papier der Deutschen Fußball Liga (DFL) von 2020 hieß: „Die Meisterschaft ist in der Regel langweilig.“Das gilt zwar für die Bundesliga stärker als für die spanische oder die britische Liga. Aber auch dort verstößt die Tendenz gegen „das erste Gesetz“, das ausgerechnet in den US-amerikanischen Profliligen gilt, wonach ein attraktiver Wettbewerb ein „möglichst großes Maß an Unsicherheit über seinen Ausgang braucht“, wie Biermann prägnant formuliert. Dennoch kann im kommodifizierten Fußball nicht alles geplant werden. Zu 70 Prozent spielen die Tore, zu 20 Prozent die Kompetenz im Verein eine Rolle (Trainer, Scouting et cetera), zehn Prozent schließlich sind dem Zufall geschuldet. Bei einer Weltmeisterschaft kommt nun eine so schwer bestimmbare Größe wie der Turniercharakter dazu.Wo läuft es im Fernsehen?Last but not least ist die Geschichte des modernen Fußballs die Geschichte seiner medialen Vermarktung, die in Biermanns Buch eine wichtige Rolle spielt. Von den ersten zaghaften Versuchen mit ran 1992 bis zur völlig unübersichtlich gewordenen Verteilung der Übertragungsrechte auf Streamingdienste und TV-Sender ist eine für den Fan teure und nervtötende Gemengelage entstanden, in der die Öffentlich-Rechtlichen hintenanstehen. Anders bei dieser WM. ARD und ZDF übertragen insgesamt 48 Spiele. Darin sind alle Spiele der deutschen Nationalmannschaft sowie das Eröffnungsspiel, die Halbfinals und das Finale sicher enthalten.Zum Schluss ein paar Worte zu Katar. Die Vergabe war ein so großer Schock, dass angeblich sogar Sepp Blatter schlucken musste. Sie stand zwar in der logischen Konsequenz der Verschacherung an den Meistbietenden. Und doch gab es auch in diesem Fall ein entscheidendes Moment. Mit der Vergabe an den Wüstenstaat konnte der UEFA-Präsident Michel Platini die Probleme lösen, die es daheim in der französischen Liga gab. Und siehe da, kurz nach dem Zuschlag für Katar mit Plantinis Unterstützung stieg Qatar Sports Investments bei Paris Saint-Germain ein, der Rest ist bekannt. Die Stärke von Christoph Biermanns Buch liegt in der Prägnanz durch solche Anschauung. Wer etwas mehr als ein „main eventer“ sein will, liest es darum mit Gewinn, und bestünde der auch nur darin, in den kommenden Wochen bei günstiger Gelegenheit eine dieser Pointen zum Besten zu geben.Placeholder infobox-1
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