der Freitag: Lieber Hans-Jürgen Heinrichs, wie sähe eine Kunst ohne die Erfahrung von Fremdheit aus?
Hans-Jürgen Heinrichs: Sie wäre nicht mehr als Kunst erkennbar.
Und wie sähe die Liebe aus?
Niemand würde sich verlieben und sich dem Geheimnis der Liebe gegenüber öffnen ohne die lustbesetzte Phantasie, fremdes Terrain entdecken und mit bewohnen zu wollen.
Gleichwohl hat es die Fremdheit nicht einfach in unsere Zeit. Ich genieße zum Beispiel sehr die Selbstbefremdung durch eine große Stadt. Wie ist das bei Ihnen. Wo fühlen Sie sich in Berlin fremd?
Das kann an jedem Platz, in jedem Stadtteil sein. Es hängt davon ab, mit wem ich gerade da bin, oder, wenn ich allein bin, was an mir als fremd wahrgenommen wird, zum Beispiel nur schon die Tatsache, dass ich in einer Kneipe mit einem Stift in der Hand versunken in mein Notizbuch schaue und zu schreiben anfange. Vielleicht vermischt sich dann das Bild, das die anderen von mir haben, auf diffuse Weise mit Bildern einer zerstörten Nachkriegswirklichkeit (die für mich als Kind der Inbegriff von Fremdheit war). Vielleicht tauchen auch die Worte des Vaters wieder auf, für den Schreiben eine Ausrede für Nicht-arbeiten-wollen war. Sobald ich diese Spur aufnehme, komme ich in einen verstehenden Austausch mit mir und den Menschen um mich herum, und das Bild der Fremdheit wandelt sich.
Als ich zum ersten Mal, in den 1970er Jahren, in Berlin war und in das Restaurant „Der Ägypter“ ging, fühlte ich mich wie in San Francisco, wo ich in einem persischen Restaurant während des Essens schrieb und schrieb und dem Besitzer das Geschriebene vorlas und er sagte: Sie sind mein Gast, solange Sie in der Stadt sind. Das war ein Höchstmaß an Verwandlung der Fremdheit in Glückseligkeit.
Mir scheint, dass der ethnopsychoanalytische Blick gewisse Verkrampfungen im interkulturellen Austausch lösen könnte. Das zeigen Sie in Ihrem neuen Buch „Fremdheit“. Im Untertitel: „Geschichten und Geschichte der großen Aufgabe unserer Gegenwart“, erschienen im Kunstmann Verlag. Das würde aber voraussetzen, dass man das Gefühl der Fremdheit oder auch der Befremdung erst einmal zulässt. Sehe ich das richtig?
Ja. Aber der Schritt ist gar nicht so riesig, da Gefühle der Fremdheit und Befremdung latent ständig in uns präsent sind, im Alltag, im Beruf, in der Familie, in der Liebe. Sie tauchen sporadisch auf, vor allem in Konfliktsituationen, oder bei Überschreitungen, wenn man einen anderen tief verletzt und zum Beispiel das eigene geliebte Kind schlägt. Bezeichnenderweise sagt man dann „Ich war außer mir“. Außer der Normalität. Man wurde sich selbst fremd. Die Frage ist dann, wie man damit umgeht. Schenkt man dieser an sich selbst erlebten Fremdheit (beim “Ausrasten” und bei einer der verschiedenen Formen des Machtmissbrauchs) weiterhin Aufmerksamkeit und versucht den Gründen dafür auf die Spur zu kommen, oder belässt man es bei einer momentanen Aufmerksamkeit. Hier entscheidet es sich, ob man fortan seinen alltäglichen Blick schärft für das, was als eigen oder als fremd erscheint, was wir wertschätzen oder aber (bei den „Anderen“) missachten.
Man kann erkennen lernen, dass man in allen Bewertungen emotional beteiligt ist, sowohl mit den Emotionen, die man von sich selbst gut kennt, als auch mit den Anteilen, die einem selbst fremd und vielleicht unheimlich sind (wovon auch zuweilen unsere Träume, szenisch aufgeführt, Kunde geben). Es gibt also ein “Inneres Ausland”.
Wenn mich der Eindruck nicht täuscht, wird dieses „innere Ausland“, oder sagen wir: die Selbstbefremdung, durch die identitätspolitischen Diskussionen aber nicht gerade gestärkt. Wie sehen Sie das?
Im Grunde kann man bei jeder Diskussion ansetzen, um individuelle und gesellschaftliche Prozesse zu verstehen und zu deuten, wenn der Blick nicht im Vorhinein ideologisch erstarrt ist und er nicht nur auf die Befestigung des Vertrauten und programmatisch Festgezurrten gerichtet ist. Die gewöhnliche Vorstellung von Identität eignet sich besonders gut für die Verhinderung offener Dialoge und gedanklicher Austauschprozesse. Menschen, die fixiert sind auf die Verteidigung einer Identität, die sie mit einem Geschlecht oder mit „Heimat“ (ein Begriff, der auch Brüche und Zerwürfnisse kitten soll) und einer Religion gleichsetzen, verraten die Komplexität, die sie an sich selbst erleben. Und auch die mehrkulturelle Vielschichtigkeit, von der fast jede Gesellschaft geprägt ist.
Aber was ist denn, wenn Menschen eine Identität nicht „verteidigen“, sondern erst mal erlangen wollen? Also zum Beispiel Leute, die in eine andere Kultur kommen?
Wenn man sich lange mit außereuropäischen Gesellschaften beschäftigt und auch zu ihnen gegangen ist, bei ihnen gelebt hat, lernt man der Vorstellung von einer in sich geschlossenen Identität zu misstrauen. Besonders eindrucksvoll hat die Ethnologin Heike Behrend beschrieben, wie sie von den Tugen in Ostafrika als identitätsbewusste Person demontiert wurde. Man nannte sie „Ding“, „Affe“, „Unperson“. Und für meine Nachbarn in einem spanischen Dorf war ich irgendwie „schwarz“, im Sinne von anders, auch unheimlich, eben ein Fremder, von dem man nicht weiß, was der so im Verborgenen treibt. Meine „Identität“ – das Phantom einer Identität – half mir da wenig. Ich musste mich erst sozial bewähren. Ein Fremder blieb ich trotzdem. In meinem Buch erzähle ich auch davon.
Ein großes Problem im Zusammenhang mit der Fixierung auf Identität oder Identitäten sind die Mikroaggressionen. Wer einer Minderheit zugehört fühlt sich ständig verletzt durch Äußerungen, die er als herabwürdigend empfindet. Egal, wie sie gemeint waren und vielleicht erst einmal ja nur Ausdruck eines Befremdens sind, siehe Kopftuch-Debatte. Ein Zusammenleben kann so schwierig werden, meine ich. Könnte ein gelassenerer Umgang mit Fremdheit hier nicht Gutes tun?
Vielleicht ist das Wort „gelassen“ eine Klippe. So, als könne man sich zurücklehnen. Es ist aber eine Bewusstwerdung, an der man ständig arbeiten muss, und zwar alle: die sogenannten Mehrheiten und die Minderheiten, die sogenannten Einheimischen und die Hierhergekommenen, die „Zugezogenen“. Jeder macht ständig die Erfahrung, zu irgendetwas und irgendeiner Gruppierung nicht dazuzugehören. Das Konzept der Mikroaggressionen kann selbst kleinste Ausdrucksformen der Abwertung und Erniedrigung beleuchten. Es kann aber auch die Grenzen zu einem offenen schwerwiegenderen Rassismus verwischen. Wo schlagen eine tief empfundene Nähe und die als belebend erfahrene Differenz zum Anderen in extreme Abneigung um? Das frage ich mich immer wieder.
Im Grunde sind wir doch alle neugierig auf den Anderen und auf die vielen Gestaltungsformen von Fremdheit. Schauen Sie sich nur unsere Begeisterung für die Raumfahrt an, wie sehnsüchtig unsere Augen der Reise ins Unbekannte folgen. Und auch die immer lebendig gebliebene Reiselust, trotz der Terrorakte. Die Menschen schwärmen von der erlebten Schönheit der Natur, der überschwänglichen Gastfreundschaft und Herzlichkeit der Menschen. Zurückgekehrt können sie dann aber oft nicht an ihrem erworbenen Bild festhalten und beugen sich den Klischees der Anderen.
Eigentlich – das ist auch ein Grundton meines Buches – sind wir alle Ethnologen: wollen Fremdheit erleben, verstehen lernen und für unser eigenes Leben nutzbar machen. Wenn die Menschen an ihrem Blick festhalten und ihn im Alltäglichen weiter entfalten könnten, würden sie starre Bilder von Eigen, Fremd und Identität aufgeben und ein vielschichtiges Bild von Fremdheit entwickeln. Im Begriff Geschichte steckt ja die Vorstellung von Schichten.
Wie sehen Sie im Zusammenhang des Erlebens von Fremdheit die Kritik an „Cultural Appropriation“? Könnte man etwa das Tragen von Federschmuck nicht auch als eine Art Selbstverfremdung bezeichnen? Sehr modern: „Ich ist ein anderer“ (Rimbaud)
Wo sollen wir ansetzen? Bei den Aneignungen der als exotisch verkauften Objekte in der Mode, wo die Wertschätzung des Fremden nur im verkaufsfördernden Flair liegt. Das Indigene gewinnt dabei gerade nicht an kulturellem Wert. Aber wechseln wir auf eine grundsätzlichere Ebene: Das Sich-schmücken mit Federn einer anderen Kultur, Phantasien der Travestie – der Anverwandlung in eine andere Person und in eine andere Lebensform – das ist ein kreativer menschlicher Grundzug.
Der Wunsch, in die Haut eines Anderen zu schlüpfen, mit seinen Augen zu sehen, mit seinen Ohren zu hören, kann auch in den Dienst gestellt werden, untergegangene und untergehende Kulturen vor dem Vergessen zu bewahren. Und es sind Selbstverfremdungen, verbunden mit dem Wunsch, das Selbst, das Eigene zu bereichern durch etwas, was in einem vielleicht latent da ist, aber noch nicht gelebt wurde. Leben ist doch ein Umkreisen des Eigenen und des Fremden, ein beständiges Ein- und Ausschließen. Die Frage ist: Bricht man diesen offenen Prozess an einer Stelle ab (zum Beispiel wegen einer schlechten oder gar dramatischen Erfahrung mit einem Fremden), oder bleibt man in einem offenen, kreativen Transfer zwischen „Eigen“ und „Fremd“, offen für den geistigen Reichtum in der Fremdheit?
Als Ethnologe im Feld ist man ja ständig selbst der Fremde. Nun ist Ethnologe-Sein sicher eine Sonderform der Existenz. Aber müsste idealerweise nicht jede Reise die ethnologische Erfahrung im Kleinen wiederholen?
Ja, idealerweise würde man das Wort und die Vorstellung von einer Reise für das gesamte Leben und für alle Aktivitäten im Alltäglichen, Sozialen und Politischen ausdehnen. Dabei folgen wir zu einem Teil stark konturierten Zielen, zu einem anderen Teil aber bewegen wir uns in unbekanntem Terrain, im Ungewissen. Ich möchte den Raum für Gesellschaftsanalysen so weit wie möglich machen und der Fremdheit in vielen Bereichen des Lebens, der europäischen und außereuropäischen Gesellschaften nachforschen. Erst aus der Differenz zum Anderen gewinnen unsere Gedanken an Kontur und Bedeutung.
Die Differenz ist nicht das Problem – im Gegenteil: sie ist ein Potential –, sondern die vorurteilshafte herabsetzende Bewertung des Anderen. Das ist eine individuelle Aktion, die durch ein entsprechendes gesellschaftliches Klima allererst zur Wirkung kommt. Das Problem ist aber auch eine zuweilen verborgene Selbstmissachtung. Nach außen auf den Fremden gewandt, entlastet diese Projektion psychisch. Die Ausgrenzung des Fremden bis hin zu Hass und Gewalt kennen alle Gesellschaften, nur in ganz unterschiedlichen Ausdrucksformen und Kombinationen.
Zur Ethnologie des Inlands. Am Beispiel der sehr befremdlichen Reichsbürger zeigen Sie, dass das Fremde als weniger gefährlich eingestuft wird, wenn es aus der eigenen Kultur kommt, als wenn es von außen kommt. Hätten Sie da weitere Beispiele?
Denken Sie nur an den Mann, der 2005, nach einem Anschlag in London irrtümlich von der Polizei wegen seines „asiatischen Aussehens“ erschossen wurde. Nicht einmal, fünf mal. Aber lassen Sie mich meine Aussage, dass wir das Fremde als weniger gefährlich einstufen, wenn es aus der eigenen Kultur kommt, erweitern, vielleicht auch etwas korrigieren, aus aktuellem Anlass.
Gerne.
Aufgrund der medialen, visuellen Präsenz und Vervielfältigung des Geschehens kommen uns Szenarien der Fremdheit ständig aus der Mitte unserer zivilisierten Gesellschaften entgegen. Szenarien, die mehr dem Unzivilisierten zuzuordnen sind und die von der Mehrheit der Menschen, zumindest augenblickshaft, mit Erschrecken wahrgenommen werden: Es ist der sexuelle Machtmissbrauch und der politische Machtmissbrauch. Szenarien, für die wir nur erst vorläufige Benennungen als „abscheulich“, „abstoßend“ oder „ungeheuerlich“ zur Verfügung haben. Exemplarisch vor Augen geführt hat das neulich das „Ibiza-Video“. Dieses Video und Fotos, die den FPÖ-Politiker Heinz-Christian Strache kämpferisch im Tarnanzug vor einem Kriegerdenkmal zeigen, sind synkretistische Performances, die allerdings nicht von einem freien, sondern von einem korrumpierbaren und missbrauchten Geist zeugen.
Und das schwer auflösbare, kaum veränderbare Befremdliche daran ist, dass die so handelnden Politiker genau wegen ihrer Abwegigkeiten und Pathologien umjubelt werden. Jeder, der dafür tagespolitische Lösungen anbietet, verschließt den Blick für die manifeste individuelle psychische Verankerung jeder Art von Missbrauch.
Damit zur AfD. Sie weisen in Ihrem Buch auch auf den Prozess der Verkehrung des Nahestehenden in einen Fremden hin. Und nennen die Auseinandersetzung um diese Partei. Meine Frage im Zusammenhang mit der in der AfD zu beobachtenden Selbstradikalisierung des Personals: Wie lassen sich aus Fremden wieder Nahestehende machen? Kann das überhaupt gelingen?
Da bin ich immer skeptischer geworden. Eine oft vorgetragene Wunschvorstellung ist ja, dass Parteien wie die AfD oder FPÖ, wenn sie in die Regierung eingebunden werden, ihre extremen Positionen mildern, demokratischer, dialogischer und dem Menschen anderer Religionen und Traditionen zugewandter werden. Ich glaube es nicht mehr und möchte doch – ist das ein Widerspruch? – die Vorstellung nicht ganz aufgeben.
Einige Zeit habe ich Lösungen nachgehangen, die sich darauf gründeten, dass doch auch Rechtspopulisten in sich den Kern des Humanismus und menschlicher Würdevorstellungen, der Achtung des Nächsten in sich tragen, an die man anschließen kann. Und bei einem Politiker wie Donald Trump dachte ich bei den Versöhnungs- und Dialogangeboten, die er nach menschen- und gesellschaftsverachtenden, von Hass begleiteten Attacken machte, er folge nun wieder, gleichsam geläutert, einer anderen, demokratisch und zivilisatorisch verankerten Tiefenstruktur, bis ich erkannte, dass er gerade in diesem Wechselspiel seinen inneren, ihn beruhigenden Rhythmus polarer Haltungen, seine unverrückbar manifeste psychische Befriedigung findet. Als ich dann auch sah, dass höchstrangige Politiker, die sich offen für die Erniedrigung und Folter Andersgläubiger aussprechen, dafür von Menschen (die doch auch Freunde, eine Frau, einen Mann oder Kinder ... haben) frenetisch umjubelt werden, wurde und wird es mir immer schwerer, an abstrakte Lösungen jenseits der manifesten oder latenten pathologischen Strukturen zu glauben.
Versuchen wir mal die „Gegenseite“ auch zu verstehen. Worin besteht ihre Selbsradikalisierung? Vielleicht auch darin: Wird nicht auch der „weiße alte (heterosexuelle) Mann“ gerade im öffentlichen Diskurs von einem Nahestehenden zu einem Fremden gemacht?
Die Verwandlung des Nächsten in einen Fremden geschieht ständig in allen Bereichen unseres Lebens, und umgekehrt ebenso. Mein Wunsch in diesem Buch ist es, die Vielschichtigkeit dieser Prozesse zu verstehen und zu deuten – und vor allem von ihnen zu erzählen. Ich möchte mich für das Gedeutete individuell verbürgen. Ich schreibe gegen die Abspaltung der Wissenschaft von dem Menschen, der sie betreibt. Hier setzt auch die Ethnopsychoanalyse an.
Ein einleuchtener Gedanke ihres Buches fand ich: Wer den Fremden als Fremden akzeptiert, ist offener für die Gastfreundschaft. Diese Praxis haben Sie in vielen Ländern erlebt. Bei uns ist es damit bekanntlich nicht so gut bestellt. Aber lässt sich Gastfreundschaft überhaupt „herstellen“? Stichwort: Willkommenskultur.
„Willkommenskultur“ – das ist wie das Aufblitzen eines humanitären Funkens, einer aufflackernden Vorstellung menschlicher Würde und Nähe. Damit ist es aber nicht getan. Es ist ein ständig weiter zu führender Verstehens- und Bewusstseinsprozess. Und das Festhalten an dem in seiner Struktur erschütterten Dialog.
Welche Fehler werden aus Sicht des Ethnopsychoanalytikers in der Integration der Flüchtlinge noch gemacht?
An allererster Stelle die Reduzierung auf Verfahrensweisen und Integrationstechniken. Wir haben nicht gelernt, die praktische Umsetzung der Integration ganz eng an kulturelles Fremdverstehen und Empathie zu binden. Würden wir die gesellschaftliche und die emotionale Dimension der Migration und Integration zusammen sehen, könnten wir auch eine enge, wissende und gefühlte Verbindung zu unserer eigenen Geschichte der Flucht und der erlittenen Traumatisierungen herstellen. Dann könnte man nicht länger die Augen verschließen für das oft unsagbare Leid vor allem tief traumatisierter Kinder, die doch eines Tages die Ausrichtung der Gesellschaft mitbestimmen werden. Der ethnopsychoanalytische Blick versucht auch diese Dimension zu erfassen. Wir verschließen zu oft emotional unseren Blick, statt ihn für unsere Lebens- und Weltsicht zu erweitern. Arbeiten wir an Bildern eines offenen Terrains, an Wahlmöglichkeiten im Umgang mit dem Fremden.
Offenheit verlangt vertrauen. Nun schreiben Sie allerdings auch, dass man begreifen muss, dass Vertrauen ein Sonderfall ist. Es muss erarbeitet werden. Haben wir aber nicht gerade auch dieses Problem: Angesichts der terroristischen Gefahr gibt es eine legitime Skepsis gegenüber dem Fremden. Kann er sich nicht tatsächlich „verstellen“? Was wäre dagegen zu tun?
Ja, selbstverständlich. Eine Skepsis, die wir aber auch uns gegenüber haben oder haben sollten. Elie Wiesels Aussage, der Fremde verkörpere das Unbekannte und Ausgegrenzte, gilt auch auf uns selbst bezogen: Welche Fremdheitsanteile in uns – Geheimnisse, für die wir uns schämen oder Hass und vielleicht eine nicht sagbare Perversion – grenzen wir aus? Welch eine Dramatik, wenn aus einem nachbarschaftlichen guten Zusammenleben (wie bei den Hutu und Tutsi in Ruanda) ein Schlachtfeld gemacht wird und Menschen sich selbst zu Fremden werden!
Oder wenn ein Mensch, der caritativ ein wunderbarer Lebensretter ist, immer wieder auch, aufgrund eines unerlösten Triebschicksals, das Leben anderer radikal aufs Spiel setzt und sie traumatisiert zurücklässt. Da bricht eine Fremdheit in ihm auf, die ihn und die Anderen an den Abgrund führt. Zurück zum Ausgang Ihrer Frage: Die von außen kommende Gefahr ist nicht hoch genug einzuschätzen. Aber schützen wir uns davor, in jedem Fremden einen latenten Terroristen zu sehen. Der Fremde bietet uns immer auch die Chance, Konturenbildner unseres Ich und unserer Gesellschaft zu sein.
Zum Schluss: Wie stellen Sie sich ganz konkret die Schärfung des ethnopsychoanalytischen Blicks vor?
Meine Grundidee ist, den emotionalen und den gesellschaftsorientierten Blick eng miteinander zu verknüpfen. Ein Ausgangspunkt in meinem Buch ist zwar die Wissenschaft der Ethnopsychoanalyse, ich möchte aber keine Wissenschaft in das Alltagsleben, in die Gesellschaft und Politik einführen, sondern für eine veränderte Wahrnehmung werben, für den ethnologischen und ethnopsychoanalytischen Blick. Das hatte ich ansatzweise auch etwa in meinen Büchern Die gekränkte Supermacht. Amerika auf der Couch oder Das Fremde verstehen versucht.
Als ich 2010 eingeladen war, in Schloss Bellevue über „Das Eigene und Fremde, Nahe und Ferne“ zu sprechen, fragte mich der damalige Bundespräsident Christian Wulff, ob ich in einem Satz sagen könne, welchen Rat ich aus meiner Sicht der Politik geben würde. Angesichts der grenzenlosen Unkenntnis der kulturellen, ethnischen und religiösen Strukturen im Nahen Osten, mit der sich Amerika in den „Irak-Krieg“ gestürzt hatte, sagte ich: Politik sollte ohne jede Einschränkung dem Verstehen den Vorrang vor dem Handeln geben. Das mag banal klingen, ist aber in dieser eindeutigen Priorität nur zum geringeren Teil der Grundzug der Politik. Da setzt der ethnopsychoanalytische Blick an. Er verengt den Blick nicht psychologisierend, sondern macht ihn weit durch seine Perspektivenvielfalt.
Das Gespräch führte Michael Angele
Fremdheit. Geschichten und Geschichte der großen Aufgabe unserer Gegenwart Hans-Jürgen Heinrichs, Kunstmann 2019, 240 S., 22,00 €
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