Könnte man im Zuge der Lockdown-Maßnahmen nicht auch Twitter schließen und stattdessen eine allgemeine Symposiums-Pflicht einführen? Auf diesen Gedanken konnte verfallen, wer vergangenen Freitag einer Veranstaltung folgte, welche die Hamburger Akademie der Wissenschaften veranstaltete. Titel: „Infektion und Gesellschaft“. Wie angenehm der Ton, wie befruchtend die Vorträge. Dabei ging es nicht weniger überraschend und pointenreich zu als bei Twitter, nur eben auf einem unvergleichbar höheren Niveau. Gut so, denn man hat es sich doch einigermaßen bequem gemacht mit seinen Ansichten in dieser Krise, das betrifft gerade auch den Rekurs auf Radikalismen, den selbst Menschen pflegen, die nicht zum Extremismus neigen, der Autor dieser Zeilen ink
inklusive. So muss nicht mit Alexander Gauland von einem „Kriegskabinett“ sprechen, wer mit dem Begriff „Ausnahmezustand“ in diesen Tagen hausieren geht. „Wir sind in einem außergewöhnlichen Zustand, aber nicht in einem Ausnahmezustand“, beschied dagegen der Würzburger Staatsrechtler Horst Dreier.Kein SupergrundrechtDas Problem sieht Dreier vor allem in der Entmächtigung des Bundestages. Dabei hätte dieser nicht einfach nur mehr „Mitsprache verdient“, wie es oft heißt, der Bundestag hat schlicht Entscheidungskompetenz, hätte ihn die Koalition nicht entmündigt. Die Grünen haben einen entsprechenden Vorschlag eingebracht, der natürlich keine Aufnahme fand, wie das SPD-Mitglied Dreier betonte. Zu debattieren wäre: Gesundheitsschutz ist kein Supergrundrecht. Er folgt vielmehr dem Abwägungsgebot. Hier sind vier Kriterien entscheidend: Legitimer Zweck, Geeignetheit, Erforderlichkeit und – Angemessenheit. Vor allem letzteres Kriterium wird ja im Moment vielfach angezweifelt, gegen das Gros der Experten, aber, und das muss zu denken geben, mit dem Rückenwind der Ethik. Es fällt, auf dass sich Ethiker besonders kritisch äußern. Sei es das ehemalige Mitglied des Ethikrats Dreier, oder ein aktuelles wie Julian Nida-Rümelin (aus dessen Vortrag man nicht zitieren darf!), oder Christiane Woopen vom Institut für Geschichte und Ethik der Medizin an der Uni Köln. Ihr Vortrag zeigte: Die Skepsis hängt mit dem Prinzip des Abwägens zusammen. So ist zum Beispiel in der aktuellen Krise nicht nur der Schutz der Alten zu bedenken, sondern dieser auch gegen den Schutz der Jungen abzuwägen, was dann besonders triftig wird, wenn eine britische Studie belegt, dass die Schließung von Schule und Universität die Mortalitätsrate ebenfalls erhöht.Nun ist ja diese Abwägung durchaus in die aktuellen Maßnahmen eingeflossen, die Schulen werden im November bekanntlich (erst einmal) nicht geschlossen, Restaurants, Bars, Fitnessstudios und anderes dagegen schon. Dass Gastgewerbe und Reisebüros unter den Maßnahmen besonders zu leiden haben, dürfte keine Überraschung sein. Auch nicht, dass die Branchen sehr unterschiedlich betroffen sind. Aber hätten Sie gewusst, welche Branche mit Abstand am wenigsten unter der Krise leidet? Es ist, noch vor den Herstellern von pharmazeutischen Erzeugnissen, das Grundstücks- und Wohnungswesen. Also jene Branche, die eh schon zu den Profiteuren der Jetztzeit gehört. Insgesamt zeichnete Clemens Fuest vom Ifo-Institut jedoch ein drastisches Bild des wirtschaftlichen Schadens. Corona scheint die Finanzkrise von 2008 in den Schatten zu stellen, wenngleich das Ausmaß der Great Depression der 1930er Jahre wohl nicht erreicht werden wird. Eine neue Dimension hat die Kurzarbeit erreicht, jeder vierte Arbeitnehmer ist in Deutschland mehr oder weniger davon betroffen (gewesen).Der Teillockdown im November ändert daran wenig. Man könnte ihn, meinte Fuest, sogar als „ertragreiche Investition“ bezeichnen, soll er doch einen mittelfristigen Schaden begrenzen.Schwierig wird es, die finanziellen Kosten der „Spanischen Grippe“ zu beziffern, die immer wieder als Vergleich im Raum steht. Stellt sich ja die Frage: Können wir aus historischen Seuchen überhaupt lernen? Der Hamburger Historiker Philipp Osten hat sie sich gestellt. Falls ich seinen materialreichen Vortrag verstanden habe, lautet die Antwort: eigentlich nicht. Daran ändert auch die Akkumulation von historischem Wissen nichts.Kommunikative ErlebbarkeitImmerhin machte Osten auf einen so trivialen wie folgenreichen Umstand der aktuellen Krise aufmerksam: Sie wird vor allem durch die Medien erlebt. Klar kennt man einen, der einen kennt, der an Covid-19 erkrankt ist, vielleicht sogar schwer, aber insgesamt haben wir es mit einer „kommunikativen Erlebbarkeit“ zu tun, und die wiederum „erhöht die Bedeutung der eigenen Meinung“, wofür es stündlich neue Beispiele in den Medien gibt.Zu den Besonderheiten dieser kommunikativen Erlebbarkeit gehört auch die Inflation von Prognosen. Bekanntlich haben sich aber nicht nur die Voraussagen von Laien, sondern auch die von Experten im bisherigen Verlauf der Krise als enorm fehleranfällig erwiesen. So wurde im Frühjahr vielfach auf die mutmaßlich großen psychologischen Schäden durch den ersten Lockdown hingewiesen. Erste Studien deuten nun aber darauf hin, dass weit weniger Depressionen als prognostiziert auftraten: Natürlich sei es nicht überraschend, dass Leute, die unter Einsamkeit und sozialer Isolation leiden, anfälliger für Depressionen sind, meinte die Psychologin Tania Lincoln, aber vielleicht doch, dass Leute, die vor der Krise gleichsam unter hypersozialem Stress standen, durch den Lockdown nun zur Ruhe kamen. Die Reduzierung von Sozialkontakten kann sich positiv auf die Gesundheit auswirken, was man durchaus als möglichen Lerneffekt verbuchen sollte.Im KiezÜbersetzt man Isolation in soziale Tatsachen, landet man unter anderem bei der Stadtplanung. Jürgen Oßenbrügge vom Fachbereich Geowissenschaften der Universität Hamburg hielt einen spannenden Vortrag über den Einfluss der aktuellen Pandemie auf die Entwicklung unserer Städte, die sich schon vor der Corona-Pandemie in einem tiefgreifenden Wandel befanden. Nun versuchte man zwar der fortgeschrittenen Verödung der (Innen-)Städte durch eine neue Urbanität gegenzusteuern; der öffentliche Raum sollte wieder attraktiv werden, Teilhabe stattfinden, Räume sich be- statt entvölkern, aber genau dieser Tendenz läuft eine Pandemie mit ihrem Imperativ zur Vermeidung sozialer Kontakte zuwider.Corona könnte sich so als „Totengräber dieser neuen Urbanität“ erweisen. Das betrifft auch neue Formen des Wohnens, zum Beispiel des sogenannten Micro-Livings, wie es etwa im Lyoner Quartier in Frankfurt am Main zu bestaunen ist. Vom Quartier zum Kiez: Vielleicht liegt hier, in überschaubaren Einheiten, ein Potenzial künftiger Entwicklung. Die Frage bleibt dann immer noch: Was wird mit der Verkehrswende? Denn das Auto erlebt ja einstweilen eine Renaissance, was keinem Anhänger der Green City gefallen kann. Aber darauf nimmt eine Pandemie keine Rücksicht.
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