„Heimat ist ein Tongeschirr“

Interview Murathan Mungan über Berliner Einsamkeit, das alte Mardin und warum man manchmal Bäume umringen muss
Ausgabe 36/2018

Murathan Mungan ist einer der erfolgreichsten Schriftsteller in der Türkei. In diesem Jahr ist er Gast des Berliner Künstlerprogramms. Am heutigen Donnerstag liest er auf dem Internationalen Literaturfestival der Stadt.

der Freitag: Herr Mungan, Einsamkeit spielt in Ihrem Werk eine große Rolle, sind Sie in Berlin einsam genug?

Murathan Mungan: Einsamkeit spielt doch für alle Künstler und Autoren eine wichtige Rolle; große Reisen sind immer einsam. Auch in Berlin bin ich einsam. Aber ich glaube, Einsamkeit ist etwas Förderndes. In einem langen Gedicht von mir, das es leider noch nicht auf Deutsch gibt, geht es darum; wer nicht einsam sein kann, glaubt nicht an die Zweisamkeit ...

Trotzdem glaube ich, dass eine so große Stadt wie Berlin eine ganz spezielle Form von Einsamkeit hervorbringt.

Ich komme aus einer 16-MillionenStadt, aus Istanbul. Einer Stadt, die sich auf zwei Kontinenten ausbreitet. Aber um auf Berlin zurückzukommen, auch wenn ich hier alleine bin, genieße ich es. Ich habe ja schon 1990 in Deutschland gelebt, in Ludwigshafen. Damals haben mich zwei Filme von Wim Wenders begleitet. Im Lauf der Zeit und Alice in den Städten.

Das ist aber eine ganz andere Zeit.

Ich sage das mit Bezug auf die Einsamkeit. Damals konnte ich gar kein Wort Deutsch, und es war eine ganz kleine Stadt. Trotzdem habe ich zwei Bücher geschrieben.

Zur Person

Murathan Mungan wurde 1955 in Istanbul geboren. Er lebt offen schwul und setzt sich für die Rechte der Kurden ein. Zu seinem Werk gehört Lyrik ebenso wie Prosa und Dramatik, Novellenbände wie Üç Aynalı Kırk Oda oder der Gedichtband Doğduğum Yüzyıla Veda, auf Deutsch: „Abschied aus dem Jahrhundert, in dem ich geboren wurde“. Murathan Mungan liest am 6. September auf dem Literaturfestival Berlin.

Foto: Ulrich Baumgarten/dpa

Wim Wenders hat auch den Film „Himmel über Berlin“ gemacht. Allerdings ist das heutige Berlin ganz anders.

Ja, und leider hat sich auch Wenders verändert. Ich gehe oft in die Staatsbibliothek, die im Film eine Rolle spielt. Autoren sind im Geiste mit anderen Autoren befreundet. Dort hole ich mir Literatur und verfolge auch, wie Autoren die Einsamkeit wahrnehmen, wie sie in einer fremden Stadt Erfahrungen gesammelt haben.

Aufgewachsen sind Sie in einer Stadt an der syrischen Grenze, in Mardin. Wie sind Sie dort zur Literatur gekommen?

Mardin ist eine sehr alte, eine historische Stadt, eine der schönsten Städte der Welt. Hier treffen verschiedene Kulturen aufeinander und sind ineinander übergegangen. Daraus ergibt sich ein spezielles kulturelles Gedächtnis. Das, was ich nun sagen werde, erstaunt aber auch viele Türken. In dem alten Mardin, in dem ich aufgewachsen bin, hat jede Frau ein Musikinstrument gespielt. Meine Großmutter konnte alle Gedichte von Omar Khayyam auswendig. Mein Vater, er war Anwalt, sprach alle Versionen der arabischen Sprache und auch die drei unterschiedlichen Dialekte des Kurdischen. Von klein auf hat er mich gefördert, mit Bildung und Literatur. Ich habe mit acht Jahren begonnen, mein erstes Theaterstück zu schreiben. Leider nur eine Seite, weiter bin ich nicht gekommen ...

War die Nähe zu Syrien wichtig?

Es gab eine syrische Gemeinschaft in der Stadt, die ein Gewicht hatte. Meine Familie und ich gingen sogar sonntags in die Kirche.

Gibt es die syrischen Christen noch?

Nein. Die meisten Christen sind ausgewandert. Darüber berichte ich auch in meinem ersten biografischen Buch Die Geister des Geldes und erkläre diese Abwanderung. In Mardin befindet sich eine der ältesten Kirchen. Ich ärgere mich immer noch darüber, dass Umberto Eco für seinen Roman Der Name der Rose nicht dorthin gekommen ist.

Sie sprechen über Mardin, als wäre es Ihre Heimat. Kann man das so sagen?

Ja, Heimat (sagt es auf Deutsch).

Ein sehr deutsches Wort. In Deutschland ist es schwierig, so über Heimat zu sprechen.

Es ist nicht so, dass ein Autor, der sich irgendwo heimisch fühlt, einen Tourismusguide schreibt oder alles verschönert und alles Ungute außen vor lässt. In meinem Roman des Dichters gibt es einen Lyrik-Philosophen. Er erzählt seinen Studenten, dass Heimat wie eine Erde ist, die man überall mit sich trägt und daraus eine Art Tongeschirr macht, das man überallhin mitnehmen kann. Jeder kann dann dort etwas hineininterpretieren. Das ist auch meine Beziehung zu Traditionen und Riten.

Haben Sie ein Beispiel?

Im Roman gibt es eine Szene über einen sehr alten Baum, der vertrocknet ist und gefällt werden muss. Zuvor holt sich die Gemeinschaft aber die Erlaubnis des Baumes ein, ihn zu fällen, indem die Menschen einen Kreis um ihn bilden. Das ist ein altes Ritual einer anatolischen Gemeinschaft, die sich Tathacis nennt. In der Türkei haben viele Umweltschützer gesagt, dass sie diese Tradition an den Film Avatar erinnert. An das eigene kulturelle Erbe konnten sie sich nicht erinnern. Das Problem, welches Sie mit dem Begriff „Heimat“ haben, haben wir also auch bei uns.

Bekannt wurden Sie bei uns mit der Erzählung „Tschador“. Die allgenwärtige Hitze wird darin fast körperlich spürbar. Die Sinnlichkeit der orientalischen Literatur ist also vielleicht nicht nur ein Klischee.

Übersetzerin: Im Türkischen gibt es mehrere Wörter für Sinnlichkeit, so wie Gefühl etc. ...

Mungan: Für mich ist die Atmosphäre sehr wichtig – und der Charakter soll lebendig rüberkommen. Wir lesen so viele Bücher, aber im Gedächtnis des Lesers bleibt am Ende oft nur eine Szene oder ein Charakter. Ich nutze in Tschador die Tradition der Miniatur. Meine Grundidee ist, aus dem traditionellen Wissen etwas Modernes zu machen.

In dem Buch gibt es einen Bibliothekar. Ich fühlte mich an den Antiquitätenhändler aus Orwells „1984“ erinnert, der als Einziger eine Verbindung zur Vergangenheit hat. Absicht oder Zufall?

Ich habe den Bibliothekar schon bewusst, aber ohne Bezug zu Orwell, den ich viel gelesen habe, mit hineingebracht. In der türkischen Kultur ist der Bibliothekar sehr wichtig. Er ist das Gedächtnis.

Das Buch heißt „Tschador“, aber es könnte auch „Burka“ heißen ...

Es gibt ein Sprichwort: Frauen, die sich einmal verhüllen, tun das bis zum Tod. Es gibt natürlich verschiedene Stufen: Kopftuch, Tschador und Burka. Das, was ich meine, bewegt sich dazwischen. Einen Tschador zieht man einmal an und nie wieder aus, weil man sich dafür entscheidet. Aber eine Burka kann etwas sein, was einem aus religiösen Gründen übergestülpt wird. Obwohl es in einem fiktiven Land spielt, möchte ich auch die Situation in der Türkei widerspiegeln. Als ich das Buch geschrieben habe, gab es die IS-Bewegung noch gar nicht, in deren Zusammenhang man häufig davon hört.

Dass die Frau unsichtbar werden soll, ist weit über den islamischen Fundamentalismus hinaus ein verführerisches politisches Konzept.

Das, was ich beschrieben habe, ist natürlich mehr eine Katastrophe als eine Verführung. Aber es stimmt ja nicht ganz. Wir sehen in Saudi-Arabien und anderen Ländern, dass es eine Gegenbewegung gibt und die Frauen sich dort gar nicht zurückziehen.

Sie haben der „FAZ“ vor vier Jahren ein Interview gegeben. Darin haben Sie eine große Sorge um die Türkei zum Ausdruck gebracht. Zum Beispiel in Bezug auf die Trennung von Religion und Staat, dass sie sich auflöst.

Als ich fünf Jahre alt war, gab es den ersten Militärputsch. Mit 15 gab es einen weiteren Militärputsch, und als ich 25 war, gab es den letzten Militärputsch. Meine Bedenken haben sich in dieser Zeit verstärkt. Ich kann reinen Gewissens sagen, die Situation, in der sich die Türkei heute befindet, ist die schlimmste und schwierigste. Ich glaube aber nicht, dass sie lange anhalten wird. Kein Land hält so einen großen Druck auf lange Zeit aus. Ich hoffe, wir kommen mit dem geringsten Übel davon.

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Übersetzung: Sevgi Gürez
Geschrieben von

Michael Angele

Ressortleiter „Debatte“

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hing er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fußball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

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