Hilfe, fast hätte ich Hermann Hesse vergessen

50. Todestag Um ein Haar wäre im 'Freitag' gar nichts über den Jahrhundertautor gestanden. Wie konnte das passieren?

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Klar stand viel in der Zeitung, sehr viel sogar. Aber irgendwie habe ich das alles übersehen (ein wenig wie in der Erzählung von E.A. Poe der entwendete Brief, der in der offenen Ablage steckt, übersehen wird). Zwischendurch habe ich auch mal gedacht, Hesse, das machen wir bewusst nicht! Man muss doch auch mal prominent ignorieren können, was die anderen für wichtig halten. Heißt nicht genau das "Anti-Mainstream"? Wollen wir nicht genau das sein?

Als ich dann aber heute früh das Feuilleton der FAZ aufschlug, kehrte das Verdrängte mit Wucht zurück. Pünktlich zum fünfzigsten Todestag (gestorben am 9. August 1962 im Tessin) werden auf der Literaturseite vier Bücher über Hesse vorgestellt, darunter – wie es im Teaser heißt – "zwei herausragende Biographien". Beide "heben den Hesse-Mythos auf eine neue Stufe: Beide erkennen, dass Hesse schreiben musste, weil er litt – unter sich, seiner Zeit und seiner Herkunft"

Schreiben, weil er litt! Unter sich, unter seiner Zeit, unter seiner Herkunft. Sakrament. Man muss sagen, dieser Vorspann hebt die feuilletonistische Binse auf eine Stufe. Da wurde mir schlagartig bewusst:

Hesse-Leser sind eine Macht! Der einzige Grund für die vielen Artikel (und den Spiegel-Titel) ist die Angst. Die Angst von einer riesigen, hierzulande in die Millionen gehende Gemeinde der Hesse-Fans. Hesse wird der letzte gelesene Massenautor sein (nach Erich Fried, den Literaturredakteure fast genau so sehr verachten). Nicht die Liebe, sondern der Hass und die Frucht heizten den Betrieb zu seiner gewaltigen Produktion an Hesse-Artikeln an.

Aber so würde man es natürlich nicht schreiben. Die Sprachregelung dafür finde ich auch in besagtem FAZ-Artikel: Hesse-Verächter enstammen eben meist dem "akademischen Milieu", die Hesse-Jüngerschaft dem "ausserakademischen". Man kann auch sagen: Unter der Hesse-Jüngerschaft stellt sich der gemeine Akademiker eine etwas simple gestrickte, dem Gefühligen, Esoterischen und Tiefgründlerischen zuneigende Menge vor. Interessanterweise produziert jedoch jede Generation eine solche Jüngerschaft aufs Neue (ähnlich der Depeche-Mode-Followership in den neuen Bundesländern); das Phänomen ist einfach nicht totzukriegen.

Aber muss man Hesse wirklich so hassen? Ich bin auf weniges stolz, aber vor ziemlich genau zehn Jahren, dann wohl zum vierzigsten Todestag, fiel mir für einen kleinen Artikel auf den Berliner Seiten der FAZ der Claim ein "Hessehass ist Selbsthass".
Scheint mir auch irgendwie zeitlos wahr zu sein.

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Geschrieben von

Michael Angele

Ressortleiter „Debatte“

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hing er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fußball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

Michael Angele

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