Keine Silbe Corona

Wahlkampf Bitte, bitte nicht über die Pandemie sprechen! Die stille Verabredung der Parteien ging auf. Aber zu welchem Preis?
Ausgabe 39/2021

Eineinhalb Jahre lang sprach man nur über ein Thema. Im Wahlkampf spielte dieses Thema dann keine Rolle. Es schien, als hätten sich die Parteien verabredet, bloß nicht über Covid und Pandemie zu sprechen, denn da kannst du grad’ nur verlieren. Aber wir sind ja keine Verschwörungstheoretiker. Fügen wir hinzu: Nicht jede konzentrierte Aktion muss verabredet sein, manchmal reicht der stillschweigende Konsens. Ablesbar ist dieser Konsens in den aktuellen Programmen der Parteien.

Nehmen wir das Programm der FDP. Da schau, ein ganzer Passus übers Angeln. „Wir Freie Demokraten sehen Angeln als wichtige Naturverbundenheit. Die Vereine und Mitglieder sind die Umweltschützer vor Ort, die sich um eine gesunde Flora und Fauna unserer Gewässer kümmern. Gleichzeitig ist es auch ein Hobby, das altersübergreifend und interkulturell eine Gemeinschaft pflegt. (…) Wir vertrauen dem gut ausgebildeten Angler, der jeweils am besten einschätzen kann, ob ein gefangener Fisch entnommen werden muss oder wieder zurückgesetzt werden kann. (…) Die Angeltätigkeit ist aus unserer Sicht kein Gegenpart zu Naturschutzzielen. Deswegen lehnen wir auch pauschale Verbote und Beschränkungen der Angelei ab (...).“

Bauerntrick

Hier wird nicht nur knapp vier Millionen Anglern in Deutschland aus dem Herzen gesprochen, hier haben wir nicht nur die FDP als bessere grüne Partei vor uns, hier wird im Grunde die Gesellschaft selbst nach dem Muster eines Angelvereins imaginiert. Es ist das schiere Gegenteil der Stressgesellschaft der letzten eineinhalb Jahre. Im Wahlprogramm der FDP findet sich noch nicht einmal ein eigener Abschnitt zu Covid. Dabei verbindet man gerade diese Partei mit drängenden Fragen nach Freiheitsrechten unter den Bedingungen einer pandemischen Situation.

Man verbindet sie dank eines Bauerntricks: Der Abgeordnete Kubicki sprach unentwegt von dem, was der Parteivorsitzende Lindner beschwieg. Die Sache ging auf. Noch mehr zu verlieren hatten die Grünen. Annalena Baerbock machte die maximal konsensfähige Bemerkung, dass sie die Impfpflicht für „einzelne Berufsgruppen“ nicht ausschließt, das war’s. Grundsätzliches bitte nur zum Klimawandel. Auf das naturheilkundliche, impfskeptische Milieu, das den Grünen nahestehen müsste, konnte man bei Wahlprognosen von 30 Prozent erst mal gut verzichten. Kann man an die Kleinstparteien und die Gruppe der Nichtwähler abgeben. Gleiches gilt für CDU und CSU, die ihr Kontigent Corona-Skeptiker an die Freien Wähler abgegeben haben.

Außerdem hatte man den Eindruck, dass Jens Spahn im Wahlkampf Auftrittsverbot hatte und selbstverständlich nicht zu diesem „Zukunftsteam“ gehörte, das schon fast wieder vergessen ist. Gehörte dem irgendein Experte für Pandemie an? Kurz nachdenken, nein. Und die Linke? Ein paar vernünftige Sätze, dass die sozial Schwachen unter Corona am meisten leiden müssen. Nichts Grundsätzliches, etwa zur Pharmaindustrie. Würde zu viele Parteigänger abschrecken, dann lieber für eine radikale Friedenspolitik kämpfen, das eint. Der Erfolg war überschaubar.

Genesende

Was löst es in einem aus, wenn ein Thema, von dem es eineinhalb Jahre geheißen hat, es werde alles verändern, im Wahlkampf schlicht keine Rolle spielt? Nun, in mir löst es das Gefühl aus, verar... zu werden. Dieses Gefühl ist in unserer Gesellschaft weitverbreitet und führt zu einer unguten Mentalität des Misstrauens. Ich dimme also meinen Ärger auf einen Normalzynismus runter („Ein Feigling ist ein Politiker, bei dem der Selbsterhaltungstrieb normal funktioniert“) und denke an die verständliche Angst vor Veränderung, die diesen Wahlkampf geprägt hat.

Auch darin, dass er längst nicht so schmutzig wurde, wie man prognostiziert hatte, sondern milde im Umgang, als hätte man es bei Scholz und Friends mit einer Gruppe von Genesenden zu tun, die demnächst aus dem Krankenhaus entlassen wird (noch etwas bleich, aber schon wieder lächelnd).

Irgendwo habe ich gelesen, dass es in der Wahl zwischen Scholz und Laschet um die Frage ging, wer von beiden glaubhafter vermitteln kann, dass unter ihm bei maximaler Veränderungseinsicht (das Klima!) alles gleich bleibt. Das mag jetzt aufgehen.

Man stelle sich aber vor, die Wahl wäre im Lockdown gewesen.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Angele

Ressort Debatte

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hängte er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fussball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

Michael Angele

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