Strategisches Narrativ: Wie Wolodymyr Selenskyj die Regeln der Erzählkunst einsetzt
Interview Was droht mit Putins Anti-Westen-Narrativ? Was bewirkt Bidens Spruch vom Ende von Corona? – Fragen an Literatur- und Kognitionswissenschaftler Fritz Breithaupt
Narrative, schlägt Fritz Breithaupt in seinem neuen Buch vor, sind kollektive Erzählungen mit einer großen „Gravitationskraft“ (A. Koschorke). Darüber hinaus machen sie „das Angebot eines Endes zur Auflösung einer Krise“. Es reicht also nicht, dass Narrative ein einschneidendes Ereignis wie den Ausbruch eines Kriegs oder einen Terroranschlag sinnhaft deuten, sie haben auch eine quasi therapeutische Funktion. Last but not least kann ein geschärfter Blick auf die in Politik und Medien wirksamen Narrative helfen, besser zu verstehen, warum Politik und Medien handeln, wie sie handeln.
der Freitag: Herr Breithaupt, Narrative sind in aller Munde. Wann hat es eigentlich angefangen, dass wir von ihnen so viel reden?
Fritz Breithaupt: Ich denke, e
reden?Fritz Breithaupt: Ich denke, es hat mit der Klage über das Fehlen eines Narrativs angefangen: des Europa-Narrativs. Und damit auch der Abwesenheit eines starken Demokratie-Narrativs. So entstand die Forderung „Wir brauchen bessere Narrative“. Das war aber auch die Stunde der AfD. Ausgehend von dem Slogan „Wir müssen zuerst an Deutschland denken“ entwickelte sich von rechts eine „ Erzählung“ mit einem großen Identifikationspotenzial. Das hatte es seit der Bewegung gegen die Atomkraft nicht mehr gegeben. Das Anti-AKW-Narrativ war das letzte, das sich von der Mitte bis zur Linken verbreitet hat.Und dieser Entwicklung hat die heutige Linke nichts entgegenzusetzen?Immerhin kann sie jetzt philosophieren, warum sie kein Narrativ mehr hat. Das ist ja auch wieder was Produktives, dass man den Wandel diskutiert.Was braucht die Linke eigentlich, was braucht Europa, was braucht die Demokratie?Ich muss dazu sagen, dass nicht jede Parole schon ein Narrativ ist. Echte Narrative leisten emotionale Arbeit. Daher fehlen uns häufig die Narrative.Es wird oft gesagt, dass die Linke noch mehr auf das Narrativ von Arm gegen Reich setzen müsste. Hätte das den erwünschten emotionalen Erfolg?Wir brauchen da einen neuen Ansatz. Ich halte die ungerechte Verteilung in der Tat neben dem Klimawandel für die zentrale Herausforderung unserer Epoche. Aber das Narrativ Arm gegen Reich zündet nicht mehr, weil zu viele nicht mehr wissen, wo sie eigentlich stehen und sich weder mit dem einen noch anderen identifizieren. Ich würde hier auf ein positives Narrativ setzen: gute Startbedingungen für alle. Um dieses Narrativ zu starten, schlage ich ein kollektives Erbe vor, finanziert aus rigider Erbschaftssteuer, das jeder und jedem etwa mit Volljährigkeit zufällt.Sie erwähnen bei den großen Herausforderungen nicht die digitale Überwachung. Ist das nicht ein Großthema für die Epoche und damit auch für ein Narrativ?Wir hatten gegen die totale Überwachung ältere Narrative, die sich etwa aus 1984 und anderen Dystopien gespeist haben. In diesem alten Narrativ gab es unschuldige Opfer, die sich heldenhaft gegen die Tyrannen auflehnen. Doch die jetzige digitale Beobachtung funktioniert anders, weil ja die große Mehrzahl der Leute froh mitmacht und Daten bei Google, Instagram und den chinesischen Äquivalenten eingibt, ohne ihre mögliche Steuerung wahrzunehmen. Den Sprung zum neuen Narrativ schafften dann die sehr populären Matrix-Filme: Einer kann den Computer überlisten und überbieten. Aber diese Heldenrolle ist etwas sperrig, weil sie voraussetzt, dass der Einzelne das kann, was ein Computer kann. Vielleicht ist der Funke deshalb nicht auf die Masse übergesprungen.Placeholder infobox-1Das könnte damit zusammenhängen, dass die Opfer der digitalen Überwachung relativ gering sind. Ein starkes Narrativ braucht aber nicht nur Helden, sondern auch Opfer.Narrative brauchen in der Tat Ereignisse, die miterlebt werden können. Wo es Helden gibt, braucht es dann tatsächlich auch Opfer. Von den Opfern der digitalen Überwachung in China wissen wir hierzulande nicht sehr viel. Dazu funktioniert die Überwachung dort vermutlich schon zu gut. Hierzulande geht es wohl meistens um Bevor- und Benachteiligungen, die wir selten mitbekommen. Aber manche meiner Studenten sehen sich durchaus als digitale Opfer, viele benutzen keine Handys mehr, sondern ganz primitive Klapptelefone, sie benutzen Google nicht ...Sie schlossen Ihr Buch mitten in der Coronakrise ab. Die Frage, ob Corona ein großes Narrativ entwickelt hat, war für Sie damals noch nicht entschieden. Wie sehen Sie das nun ein Jahr später, eingedenk des Spruchs von Joe Biden, dass Corona vorbei sei?Ein großes Narrativ beschreibt nicht nur Ereignisse, es leistet selbst einen Beitrag zur Lösung der Krise. Es kann zum Beispiel Trost spenden, Anweisungen geben, wie man einen Verlust besser verarbeiten kann. Nun sah man vor einem Jahr das eine oder andere kleine Narrativ, das durchaus Wirkung zeigte, aber keines hat sich durchgesetzt – anders als in der Finanzkrise davor und ganz besonders nach 9/11, als sich starke Narrative zur Verarbeitung entwickelt haben. Dabei ging es um Schuldzuweisung und um das Aufbauen einer resilienten Identität. Nun aber beobachte ich etwas, das man als Ablege-Narrativ bezeichnen könnte, im Sinne von „es geht weiter,“ aber auch im Sinne von „wir können uns auch ein bisschen auf die Schulter klopfen, irgendwie haben wir es geschafft“. Das drückt sich in dem Spruch von Biden aus.Geprägt war die Coronakrise von Verschwörungstheorien. Sie verblassen nun, waren aber stark. Das hat damit zu tun, dass Verschwörungstheorien besonders starke Narrative sind. Sie einfach als „falsch“ zu bezeichnen greift zu kurz, oder?Sie haben recht, man sollte Verschwörungstheoretiker nicht moralisch abkanzeln. Denn wenn wir in der Nazizeit gesagt hätten, Stauffenberg und Co sind einfach verblendete Verschwörungstheoretiker, wären wir der Sache ganz und gar nicht gerecht geworden. Das waren diejenigen, die gemerkt haben, dass da was nicht stimmt.Es gab ja dann nicht nur die Theorie, sondern auch die Verschwörung selbst. Aber warum sind Verschwörungstheorien aus der Sicht der Narratologie so stark?Weil sie auf einer doppelten Ebene funktionieren. Zum einen nehmen sie die Deutung eines Geschehens vor, die meistens aus einem mächtigen bösen Drahtzieher, vielen Opfern und ein paar wenigen guten Helden besteht. Das ist erst mal eine Narration mit negativem oder positivem Ausgangspotenzial und viel Identifikationspotenzial. Zum anderen sind Verschwörungstheorien durch starke Erzählerstimmen definiert. Wer Verschwörungstheorien verbreitet, macht sich das zu eigen und kann damit anzeigen, dass er oder sie mehr weiß als andere. Verschwörungstheoretiker sind im Besitz einer Wahrheit, die die anderen nicht haben. Die Kombination von beiden Aspekten macht die Verschwörungstheorie so stark. Nehmen wir als Beispiel die Hexenverfolgungen. Wer jemanden als Hexe anklagte, konnte sich erst einmal als Opfer darstellen. Damit steht man moralisch gut da. Und zudem konnte der Ankläger sich auch als Wissenden inszenieren, der über die Ausmaße des Satanskults und seiner Organisation munkeln konnte. Viele alte Dokumente enthalten ja auch gleich wahnwitzige Ideen über die Hexenbünde. Ähnlich übrigens die Fake News über Hillary Clintons Pizzagate.Das hat etwas Seherhaftes, Para-religiöses.Bei dem Sturm auf den Kongress in Amerika gab es ja diesen Schamanen. Er symbolisierte genau diese doppelte Figur. Er war vielen ein Held, der etwas tut, und er war Seher, der mehr weiß als andere.Der Sturm auf das Kapitol folgte einem Skript, das Ihrer Meinung nach essenziell für Narrative ist: Das Ende muss gut sein. Aber davor wird es schwer, es geht durchs Feuer. Von der Apokalypse bis zum Dritten Reich ein sinnstiftendes Muster. Damit ein Sprung ins Jetzt. Es gibt ja verschiedene russische Narrative. Die kleinen: den bedrängten Russen im Donbas zuhilfe kommen. Die mittleren: die Nazis aus der Ukraine besiegen. Und das ganz große, das nun immer stärker wird: Den bösen Westen besiegen. Weil Narrative, wie Sie in Ihrem Buch schrieben, immer auch Lösungsansätze bieten, macht mir diese Entwicklung Angst.Mir bereitet sie auch Sorgen.Mir umso mehr, als auch bei Selenskyi voraussehbar das nationalistische Narrativ dominant geworden ist. Er schlägt jetzt den großen mythologischen Bogen: Mit der Krim hat es angefangen, mit der Krim hört es auf. Auch das ist natürlich ein Narrativ mit eskalatorischen Effekten. Können wir im Westen in diesem Sandwich überhaupt noch ein eigenes Narrativ entwickeln?Wir beobachten jetzt, dass sich das Repertoire der narrativen Figuren und Binnenerzählungen ungeheuer verkleinert hat. Am Anfang gab es ja noch den unschuldigen Soldaten auf beiden Seiten oder das Asow-Regime. Aber jetzt reden wir immer sofort nur noch von Putin und Selenskyj. Die Gefahr der Eskalation wird in dem Maße immer größer, je weniger Narrative man erzählen kann. Zweiter Punkt. Selenskyj setzt jetzt natürlich auf das Heldennarrativ. Das fing damit an, dass er dieses Narrativ quasi als Stratege in die Welt gesetzt hatte: Erst die Verteidigung von Kiew, jetzt die große Gegenoffensive im Süden, eine Million Mann. Nun fügen sich das Narrative und das Strategische ineinander.Was tun?Wir brauchen mehr Narrative aus der Außenperspektive. Wir wünschen der Ukraine natürlich, dass sie Selbstbestimmung hat und so weiter. Aber dafür brauchen wir Weitsicht. Unser Bundeskanzler hat ja unglaubliche Schwierigkeiten, eine klare andere Position zu vertreten. Er entscheidet, ohne zu reden. Das ist schwierig. Da würden wir uns wünschen, dass er mal etwas erklärt: Zögert er, weil da alte Bündnisse fortbestehen? Hat er über rote Linien gesprochen? Sind die ausbleibenden Waffenlieferungen noch ein Zugeständnis an die frühere Sowjetunion, dass die uns die DDR zurückgegeben hat? Es gibt im Westen respektive in den Ländern Europas wenig, wo man sagen könnte, die denken jetzt ein bisschen über den Tellerrand hinaus. Alle Narrative kommen von Selenskyj. Er redet ja auch schon von den Reparationsforderungen, er redet von den Kosten des Wiederaufbaus, er redet schon, was ich sehr schlau finde aus Sicht der Narratologie, vom Ende.Placeholder authorbio-1