Einmal in seinem Leben darf jeder Kolumnist den Joker ziehen: von seiner Not berichten, wenn er einfach kein Thema findet, aber eine Kolumne liefern muss. So steht es im Schreibgesetzbuch für Kolumnisten, Paragraf 5, Absatz 2. Ich habe kurz gezögert und gedacht: Schreibste halt was über die Bild-Zeitung, deren Chef Julian Reichelt und seinen falschen Entschluss, Ausschnitte aus dem Video des Christchurch-Attentäters zu zeigen, obwohl die neuseeländische Polizei alle Medien davor gewarnt hat, das zu tun; eine Untat, die vom Springer-Chef und Bund-der-Zeitungsverleger-Vorsitzenden Mathias Döpfner, der in der Vergangenheit durch staatstragende Reden zur „Verantwortlichkeit des Journalismus“ aufgefallen ist, beschwiegen wird. Da es – Stand Dienstagabend – 35 Beschwerden beim Presserat gibt, hoffe ich auf höhere Gerechtigkeit in dieser Sache und ziehe nun also den Joker.
Der letzte!
Ach, wie gerne wäre ich jetzt Harald Martenstein oder Margarete Stokowski. Beide haben einen festen Satz an Themen, ja, eigentlich nur ein Thema, ihr Thema eben. Bei Stokowski ist es der Feminismus, zu dem es immer etwas zu sagen gibt, und Martenstein kann sich wiederum sicher sein, dass irgendwo ein progressiver Lokalpolitiker vorgeschlagen hat, Toiletten für das dritte Geschlecht einzuführen, sodass sich Martenstein über Genderwahn und Erziehungsdiktatur ereifern kann. Martenstein hat zudem den Vorteil, dass er sich traut, über Dinge zu schreiben, über die sich gefühlt jeder aus den üblichen Kreisen schon aufgeregt hat.
Die Posse um das Avenidas-Gedicht wurde von ihm damals noch im Spätherbst im Zeit-Magazin glossiert, aber ich will nichts Falsches behaupten, sonst erreicht uns noch eine Gegendarstellung. Sagen wir also: Er hat vermutlich als einer der letzten Kolumnisten dazu geschrieben. Manchmal habe ich die Vorstellung, dass Martenstein gar kein Internet hat und ihn solche Meldungen auf altmodische Weise erreichen, durch Boten, ähnlich wie in der Glosse Eine kaiserliche Botschaft von Franz Kafka, die natürlich keine Glosse ist, sondern eine Parabel.
Wittgenstein
Bei Stokowski wiederum erkenne ich den Vorteil, dass sie, falls es gerade kein aktuelles Thema gibt, Grundsätzliches zum Feminismus äußern kann: Gendergerechte Sprache I, Gendergerechte Sprache II, Männlichkeit I, Männlichkeit II, Toxische Männlichkeit I, Fake News über das Matriarchat etc. Das zeigt eine gewisse Verwandtschaft zu Besinnungsaufsätzen, die man in der Schule auf Abruf schreiben musste, ist aber natürlich viel professioneller, was sich darin zeigt, dass unter diesen Beiträgen bei Spiegel Online eifrigst kommentiert wird. Aber ich will den Bogen jetzt auch nicht überspannen. Wer nichts zu sagen hat, möge schweigen, Wittgenstein, so oder so ähnlich. Uff.
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