Es steht schlecht. Man muss sich beeilen, wenn man noch etwas sehen will. Alles verschwindet.“ Darf man sagen, dass das bisherige Werk von Karl-Markus Gauß unter diesem Motto von Paul Cézanne stand? Unermüdlich reiste der 1954 geborene, vielfach preisgekrönte Salzburger Schriftsteller zu den kleinen und kleinsten Völkern Europas, von denen kaum eines nicht am Verschwinden war – sinnbildlich gefasst im Titel seines bisher bekanntesten Werks: Die sterbenden Europäer. Die Rede war da unter anderem von den Arbereshe, den Aromunen, den Gottscheern; Namen, die viele Leser wohl zum ersten Mal anlässlich der Lektüre des Buchs vernahmen und die in der Summe das Bild einer großartigen Völkervielfalt ergaben (ein Wort, das man in diesem Fall ohne falschen Zungenschlag in den Mund nehmen kann).
Auch im neuen Buch von Gauß wird dem Leser ein enormer europäischer Reichtum vor Augen geführt, aber Im Wald der Metropolen erzählt diesmal nur marginal von der unaufhaltsam untergehenden Welt der kleinen Völker. Immerhin: Den Gottscheern gilt eine Reminiszenz; der Erzähler erinnert an eine Reise durch Slowenien nahe der kroatischen Grenze, er folgt den Spuren der Dörfer, welche die Gottscheer vor Jahrzehnten aufgegeben haben und an deren Stelle nun wieder der Wald steht.
Seine Reise führt ihn dann aber in das unscheinbare, freilich noch bestehende Kaff Dragatuš, Geburtsort des 1878 geborenen Dichters Oton Župančič, eines „kosmopolitischen Dörflers“, und Kommandozentrale der Partisanen für ganz Slowenien im Zweiten Weltkrieg. Und noch etwas bedeutet dieser Flecken für Gauß: „Auf einmal war ich mir vermessen sicher, meiner ewigen Angst, an der Enge zu ersticken oder mich in der Weite zu verlieren, entronnen zu sein, hier, in der großen Welt von Dragatuš.“
Von Beaune bis Patmos
Was ist das für ein Buch? Zweifellos steht es in der Tradition der Reiseliteratur, und es werden – wie der Klappentext vermerkt – verschiedene Genres erprobt. Das autobiografische ist dabei das diskreteste; Sätze mit „Ich“ sind rar und spinnen wie nahezu jede Stelle in diesem Buch ein Motiv, ein Bild oder eine Szene fort: Atemnot befiel den Erzähler auch im Burgund, dort aber erzählt durch einen humoristischen Filter und aufgelöst in einer, sagen wir, beiläufigen Pointe.
An Pointen sind die insgesamt 13 Kapitel nicht eben arm, manchmal treten sie auch als Memento Mori auf wie etwa bei der nachmittäglichen Abreise aus Arnstadt: „Das Putzige an Puppen, dachte ich mir, als die Stadt schon ein Stück hinter mir lag, ist nur die andere Seite des Schauerlichen, das von ihnen ausgeht, und die wundersame Puppenstadt war in Wahrheit eine Nekropole, eine Stadt der Toten, in der zwar die Fürstin Auguste Dorothea ihr irdisches Leben überlebte, die aber uns, die wir durch sie wandeln, daran gemahnt, dass es unsere eigenes Leben ist, das vergeht.“
Wovon also spricht das Buch, wenn es nur am Rand vom eigenen Ich und den kleinen Völkern handelt? Oder anders gefragt: Woraus spricht Europa bei Gauß dieses Mal? Nun, es spricht aus einem Alleinesser im Hôtel-Dieu in Beaune, der mit seinen unwahrscheinlichen Grimassen ein Wiedergänger einer Skulptur des vergessenen Bildhauers Franz Xaver Messerschmitt zu sein scheint; es spricht aus einem Klein-Venedig in Oppeln, das seinen Namen zu Recht trägt; es spricht aus einem Gespräch mit einem Alten auf Patmos, in dem keiner die Sprache des anderen beherrscht und man sich doch prächtig versteht. Und es spricht aus einem Taxifahrer in Belgrad, der den Rassismus der Italiener und ihren Umgang mit den Zigeunern beklagt, dabei Berlusconi reinwaschen will, weil das doch der sei mit den Sportsendern. Verdächtig häufig spricht Europa aus alten Frauen, ein heimliches Grundmotiv: eine Alte, die durch den europäischen Zipfel von Istanbul schlurft, eine Alte, die ein Sandwich in einer Kirche von Tours mampft ... Schließlich spricht es aus der Kunst, spricht aus Gemälden wie dem des Malers Niccolò Frangipane, das in einem Zwischengang des Museums hing, oft spricht es aus dem alten Jugoslawien, auch oder gerade im dritten Wiener Bezirk, denn dort, so liest man erstaunt, wurde dieses Jugoslawien erfunden, von Vuk Karadžić, dem serbischen Philologen und Dichter – denn immer wieder stehen die Schriftsteller am Anfang einer Reise oder sind deren nicht intendierte Frucht.
Das Reisen ist bei Gauß in seiner allerweitesten, modernsten Bedeutung zu verstehen, es umfasst „imaginäre und wirkliche Reisen“, wie eine instruktive Nachbemerkung zum Buch, in dieser Reihenfolge notabene, festhält. Zu seinen Dichtern kam der Autor durch Zufälle, über Hinweise von Buchhändlern oder über seinen Vater, der wie es heißt, ein „großer Geschichtenerzähler“ war. Es sind Dichter, deren Namen man in vielen Fällen noch nie gehört hat, die manchmal nur eine Fußnote in einem Nachschlagewerk bilden oder dem Vergessen anheimgefallen sind wie Jan Fethke oder der lachische Dichter Óndra Łysohorsky, der 1969 immerhin für den Nobelpreis nominiert war (was es mit den Lachen genauer auf sich hat, kann hier aus Platzmangel nicht erklärt werden).
Etwas bleibt immer
Es sind Schriftsteller, die alle ihren Teil zu Europa beigetragen haben, nicht zuletzt dann, wenn sie so grandios gescheitert sind wie die Neulateiner, denen eine kleine Serie gewidmet ist. Gelehrte, die mangels Alternativen über Grenzen hinweg in einer Sprache kommunizierten, die von den „Menschen, die am Rhein, an der Weichsel oder der Donau, in den Vogesen, den Dolomiten oder den Karpaten lebten“, nicht verstanden wurden. „Es war eine Aufklärung ohne Menschen, der später die nationale Mobilisierung ohne Geist folgte.“
Das liest sich wie aus der von Gauß als frühes eigenes Projekt genannten, damals ungeschrieben gebliebenen „Literaturgeschichte des Scheiterns“, durch den Kopf geht einem auch Walter Mehrings Verlorene Bibliothek. Während Mehring angesichts des Dritten Reichs den Nachweis der Wirkungslosigkeit von Literatur erbringen wollte, gewinnt man bei Gauß allerdings im Gegenteil den Eindruck, dass unser Kontinent wirklich und wahrhaftig auf Dichtung beruht. Darin liegt vielleicht der entscheidende Unterschied zu seinen vorangegangenen Büchern; während dort das große Verschwinden betrauert wurde, herrscht hier eine große melancholische Heiterkeit: Nichts verschwindet wirklich, etwas bleibt von allem zurück. Als Spur oder als Dokument. Im Museum (und sei es im Zwischengang) oder auf der Straße (und sei es nur im Namen, nach der sie benannt wurde). Und natürlich in der Bibliothek (die einen dann wieder zurück auf die Straßen treibt).
Es spricht eine ebenso tiefe wie prekäre Kulturgläubigkeit aus diesem Buch, aber gerade nicht, in dem es die großen Werke zitiert, sondern, viel raffinierter, durch Sinn für das Ephemere, der die moderne künstlerische Sensibilität ja besonders auszeichnet. Die „Sympathie für die randständigen Menschen, für die niederen Dinge des Alltags“, die der Erzähler dem rumänischen Schriftsteller Tudor Arghezi zuschreibt, gilt auch für ihn selbst. Dennoch wäre es falsch zu sagen, dass Im Wald der Metropolen ein Europa der Ränder beschreibt. Vielmehr schiebt es die Ränder unaufhörlich ins Zentrum, und umgekehrt, führt es die Zentren an die Ränder. In den Metropolen selbst sind es wiederum die marginalen Bezirke, die zählen. Deutlich wird dies an seiner Schilderung von Brüssel, die schnell in einer kleinen Liebeserklärung an die Marolles, das einstige Problemviertel der Stadt, mündet.
Brüssel als die Metropole Europas scheint ebenso mit Bedacht gewählt wie Istanbul als deren Leuchtturm. Wundern mag man sich allenfalls, dass kein Berlin, kein London, kein Paris auftaucht. Als Mangel wird das aber nur empfinden, wer auf Vollständigkeit pocht. Wie sich der Begriff der Metropole unter dem Blick des Erzählers relativiert, so auch der ihres Gegenstücks, der Provinz. Das Europa, das Gauß zeichnet, kennt keine Provinz, jedenfalls keine geistige. Noch im letzten Winkel lebt ein Dichter und Denker (fort). Das mag man für trotzigen Romantizismus halten, der sich allerdings immer wieder durch den konkreten Fund am Leben hält. Und dann gibt es so wunderliche Orte wie das Brünn von Ivan Blatny, das sich, wie es scheint, an manchen Tagen der Geografie und der Geschichte zu entziehen vermag. „Nach Brünn muss man, um den Regen zu sehen. Es gibt Dichter, die haben fast nur über Brünn geschrieben, und fast nur darüber wie es ist, wenn es regnet in Brünn. Dann ist es dort trauriger als irgendwo sonst auf der Welt, aber auf weniger persönlich gefärbte Weise, denn der Brünner Regen wäscht der Traurigkeit das Private aus, das Deprimierende und Geknickte, bis nichts mehr ist als fleckenlose reine, essentielle Traurigkeit“.
Was ist das also für ein Buch? Sagen wir es so: Es ist einfach ein Reiseführer, allerdings ein ganz besonderer und enorm wertvoller.
Im Wald der MetropolenKarl-Markus Gauß, Wien Zsolnay 2010, 299 S., 19,90
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