La Suisse n'existe pas

Staatskrise Muammar al-Gaddafi will die Schweiz auflösen. Damit befindet er sich in bester Gesellschaft

Zuerst hielt man es für einen weiteren Gag des großen Revolutionsführers, aber dann stellte sich heraus, dass Libyen tatsächlich im Juli bei der UN-Vollversammlung formell beantragt hatte, die Schweiz an die Nachbarländer zu verteilen. Die Romandie sollte an Frankreich gehen, das Tessin an Italien, und die Deutschschweiz an Deutschland. Das Motiv für diesen Vorstoß scheint klar: Rache für die Verhaftung von Gaddafis Sohn Hannibal und seiner Frau vor einem Jahr in Genf, weil sie Hotelangestellte misshandelt haben sollen.

Nun mag selbst dieser Antrag bei der UNO ein Gag des Revolutionsführers gewesen sein. Bei Gaddafi weiß man ja nicht mehr, ob er den Wandel vom Diktator zum postmodernen Show-Politiker, der ein "exzentrisches Staatsoberhaupt" bloß noch spielt, längst vollzogen hat. Seine Aktion von vor knapp zwei Jahren, im Zelt vor dem französischen Präsidentenpalast zu übernachten, gibt darüber ebenso wenig Aufschluss wie der Wandel in seinem Erscheinungsbild. Dieses lässt die Deutung, hier parodiere sich einer bewusst als exzentrischer Diktator, ebenso zu wie die Vermutung, dass dergleichen unbewusst geschieht.

Anyway: Wie immer der Vorschlag gemeint war, die Schweiz auf die Nachbarländer aufzuteilen, er ist es Wert diskutiert zu werden. Bisher ist diese Diskussion beim südlichen Nachbar unterlieben. Die Boulevardpresse bündelt den so genannten "Volkszorn" (dazu gleich mehr), und sogar die seriöse NZZ nennt den Vorstoß von Gaddafi "abstrus".

Mailand näher als Bern

Wenn es schon die UNO nicht besser wusste, und die Forderung Gaddafis umgehend abgelehnt hatte, so hätte man doch von der NZZ eine differenzierte Haltung erwarten können. Gaddafi hat ja offenbar das Grundproblem der Schweiz intuitiv erfasst. Die Schweiz ist eine "Willensnation", wie jeder Schüler dort in der ersten Klasse lernt. Eine Willensnation ist keine Kulturnation, ihr Vorhandensein kein Indiz für ein "Volk". Es ist nun einmal keine gemeinsame Sprache und auch nur sehr bedingt eine gemeinsame Kultur, welche die Bürger der Schweiz verbindet, sondern ein ominöser allgemeiner "Willen". Ursprünglich gründet dieser Wille darin, sich gegen einen mächtigen Feind zu behaupten, jedoch – so behaupten spöttische Zungen – könne man ihn schon lange umstandslos durch "Geld" ersetzen. Das ist übertrieben, Fakt aber scheint, dass der Wille immer öfter erlahmt.

Aus der Romandie und dem Tessin kommen Vorschläge, die in eine ähnliche Richtung wie Gaddafi zielen: Ein Teil der "Welschen" möchte lieber zu Frankreich gehören. Ein Teil der Tessiner wiederum fühlt sich Mailand mehr verbunden als Bern. Und es soll sogar Deutschschweizer geben, wenn auch nur sehr wenige, die die Deutschschweiz lieber als Teil der Bundesrepublik sehen. Es sind dies nicht nur Fans des FC Basel, die finden, ihr Verein wäre in der Bundesliga besser aufgehoben.

Bereits 1992 lautet ein bedeutender Beitrag des Künstlers Ben Vautier zur Weltausstellung in Sevilla: "La Suisse n'existe pas", also: Die Schweiz exisiert nicht, und 1995 sagte Frank Blankart, damals Staatssekretär: „Es gibt ja kaum mehr eine gemeinsame Überzeugung davon, was die Schweiz sein kann, sein soll und ist." So gesehen, bedeutet Gaddafis Initiative also nichts anderes, als den Gedanken eines großen Schweizer Staatssekretärs und eines großen Schweizer Künstlers konsequent zu Ende zu denken.

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Geschrieben von

Michael Angele

Ressortleiter „Debatte“

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hing er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fußball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

Michael Angele

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