Vor ein paar Wochen hörte mein Sohn, er ist sechs, nichts anderes als die Clash. Genauer gesagt, er hörte die zweite CD von Sandinista!. Er hatte sie irgendwo in unserer Wohnung gefunden, wo sie achtlos herumlag, und es war mir völlig unmöglich, ihm klarzumachen, was diese Musik einmal für mich bedeutet hatte.
Ich hatte mir 1980 die Platte gekauft, ein Triple-Album, und nicht die CD, die ich mir besorgt hatte, als ich meine Plattensammlung in den 90er Jahren weitgehend aufgelöst hatte und nur noch eine schwer erklärbare Minisammlung behielt, die unter anderem – warum nur? – die EP Warm Leatherette der Band The Normal enthielt. Die CD-Sammlung existiert dagegen bis heute relativ vollständig, aus dem einzigen Grund, dass sie anders als eine Plattensammlung kaum Platz wegnimmt.
Sandinista! war damals die Öffnung des Punks zur Welt (manche sagen: sein Ausverkauf, sein Verrat). So viele Genres, so stilvoll vorgetragen: Reggae, Dub, Rock ’n’ Roll, Jazz, Swing, sogar Gospel. Nur der Punk selbst fehlt, es sei denn, man begreift die enorme Energie in diesen Stücken als Punk. Aber halt, ein klassisches Punkstück gibt es doch, die Kinderliedversion von Career Opportunites, das 1977 geschrieben wurde: „The offered me the office, offered me the job / They said I’d better take anything they’d got …“
Mein Sohn konnte bald nicht nur Joe Strummers unverwechselbare Yella-Schreie nachmachen, sondern ganze Songs mehr oder weniger lautmalerisch nachsingen. Ein paar Wochen ging das so, jeden Tag Clash, es wurde mir fast zu viel, dann hörte die Clash-Phase im Leben meines Sohns wieder auf, und er kehrte zu Cro, „Flash mich“ und den ersten schrecklichen Versuchen des Flötenspiels zurück.
Es war reiner Zufall gewesen, dass er sich den Clash zuwandte. Ein Zeichen ohne Bedeutung. Und doch wird er sich vielleicht einmal daran erinnern, dass er als kleiner Junge die Clash nachgesungen hatte, besser gesagt, ich werde es ihm sagen. Und vielleicht wird er dann wissen wollen, wer die Clash sind, von denen dann wohl kein einziges Mitglied mehr leben wird, außer vielleicht der Gitarrist Mick Jones, der sie, man kann das auf Youtube verfolgen, möglicherweise alle mit seinem herrlichen, grundbekifften Grinsen überleben wird.
Vielleicht wird mein Sohn also mehr wissen wollen, und ich nehme mir vor, dass ich ihm dann ein Buch überreiche, falls ich dazu noch in der Lage sein werde: Mein Sohn, lies das, da steht es drin. Ich meine England’s Dreaming von Jon Savage. Das Original erschien 1992. 2001 brachte es Klaus Bittermann in seiner Edition Tiamat auf Deutsch heraus. Ich besogte mir das Buch damals natürlich.
Aber so, wie ich meine Plattensammlung auflöste, zerstörte ich auch meine Büchersammlung weitgehend, denn wenn man mich fragte, was Punk heute bedeuten könnte, dann würde ich vielleicht sagen: das Bedürfnis, sich Luft zu verschaffen, und die Einsicht, dass alle Kultur letzten Endes Müll ist. Das eine verweist übrigens auf Adorno, das andere auf den „destruktiven Charakter“ von Walter Benjamin. You take it, or leave it, each time.
Jedenfalls, ich habe mir das Buch von Jon Savage neu bestellt. Es ist in diesem Jubiläumsjahr 2016 in die dritte Auflage gegangen. Darin befindet sich auch ein Vorwort von Savage zur Auflage von 2000, zu einer Zeit also, als der Punk längst historisch war. Der Autor fragt sich in diesem Vorwort, was von Punk bleiben wird, und antwortet: Nicht „als Musik, als Kultur oder als Band“ werde er weiterleben, sondern „als allgemeines Symbol für jugendliche Unzufriedenheit, Rebellion und Störung der öffentlichen Ordnung“. Das ist bestimmt nicht falsch, aber keine wirklich befriedigende Antwort.
Aber es gibt halt keine befriedigende Antwort. denn was immer es auch war, es war immer irgendwie auch anders und mehr. Es war eine Riesensehnsuchtsmaschine und zugleich der Versuch, diese Maschine gründlich zu zerstören, und noch das ist ein Blablaba.
Wenn mein Sohn dieses Paradox verstanden hat, kann ich mich glücklich schätzen.
Info
England’s Dreaming: Anarchie, Sex Pistols, Punk Rock Jon Savage Klaus Bittermann (Hg.), Conny Lösch (Übers.), Edition Tiamat 2016, 544 S., 14,95 €
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.