Merkels Mission

TV-Kritik Der Auftritt der Bundeskanzlerin bei "Anne Will" wirkte auf mich verwirrend. Wahnhaft und souverän zugleich. Ein Erklärungsversuch

Ich wollte es wäre anders, aber ich kann es gerade nicht anders sagen: Angela Merkel erschien mir bei Anne Will souverän und wahnhaft zugleich. Ein wenig verkörpern sich in meiner Irritation natürlich nur die beiden Pole der publizistischen Kommentierung ihres Auftritts: „Wahn, Wahn, faszinierend“ twitterte Wolfgang Herles. Von einem „souveränen Auftritt“ sprach dagegen ausgerechnet der Focus. Wie kann ein solch gespaltener Eindruck entstehen?

Richtig scheint mir ja Hans Hütts Beobachtung, dass Angela Merkel die Talkshow-Dramaturgie weitgehend unterlaufen hat. Sie hatte erkennbar keine Lust „auf die Lust an medialen Katastrophenszenarien“ und zeigte sich als „Politikerin, die sich ihren Rang durch Kompromisse und den Ausgleich von Interessen erarbeitet hat“.

Aber dabei ist es nicht geblieben. In dem Maße wie Angela Merkel sich der gängigen Rhetorik einer solchen Show verweigerte, und natürlich als Bundeskanzlerin verweigern musste – sie kann ja schwer ihre Koalitionspartner im In- und Ausland angreifen – griff sie zum Vokabular einer Gläubigen.

Tiefer Vernunftglaube

Angela Merkel, das sagen ja auch ihre Gegner, befindet sich auf einer Mission. Das meint weniger, dass wesentliche Motive ihres Handelns christlich grundiert sind, das natürlich auch (Menschen in Not helfen, Griechenland, Europas verlorenen Sohn, heimholen), vielmehr meint es, dass ihr ganzes Handeln in der Flüchtlingskrise von einem tiefen Glauben beseelt ist.

Auf einer Mission in der Flüchtlingsfrage wirkt zwar auch die Rechte. Aber Angela Merkel führt keinen Kulturkampf. 'Muslime gegen christliches Abendland' ist keine Kategorie ihres Denkens, Fremdenangst keine Kategorie ihres Fühlens.

Ich frage mich manchmal, ob sie weiß, wie sehr sie gerade für ihre fehlende Fremdenangst von einen Teil der Bevölkerung gehasst wird. Vermutlich weiß sie es sehr gut. Aber sie sieht darin eine Art Kinderkrankheit: 'Die Menschen sind verständlicherweise gerade etwas gestreßt, weil die Lösung des Problems ihnen nicht schnell genug geht. Das wird sich legen.‘ So ungefähr mag sie denken.

Der Glaube von Angela Merkel heißt also schlicht und ergreifend: Glaube an die Vernunft. Was soll daran wahnhaft sein? Erst einmal gar nichts. Man kennt das: Jemand erklärt einem lang und breit und schlüssig ein Problem. Und schließt dann: Natürlich sind nur die Juden daran Schuld. Diese Form von Wahn ist bei Merkel nicht gemeint.

Der große Plan

Gemeint ist etwas anderes. Merkels Vernunftglaube existiert in einer Zeit, in der sie mit ihrer Haltung isoliert wirkt, was von rechts selten ohne Zynismus kommentiert wird.

Aber was soll sie denn tun? Die nationalen Grenzen schließen und nicht weiter den größtmöglichen Ausgleich der Interessen suchen? Das ist keine Option für Merkel. Sie kann also gleichsam nur noch vernünftiger werden. Einen Plan aufstellen. Teil für Teil. Bis er hieb- und stichfest ist. Dann den Plan umsetzen. Schritt für Schritt. Bis jeder ihm folgt. Dass dieses Europa ein gemeinsames Ziel habe, und nur noch nicht jeder an dieses Ziel glaube, sie wiederholte es wie eine Mantra bei Anne Will.

Das klingt dann so rational, dass es fast schon wieder „kippt“, also irrational, „wahnhaft“ wirkt. Angela Merkel, die Nüchterne, hat sich in einen Rausch geredet. SpiegelOnline fragt: Wie geht das zusammen?

Nun, weil es der Rausch der Vernunft ist.

Der Glaube an die Vernunft ist alt. Bei Hegel sollte der „Weltgeist“ dafür sorgen, dass sich die Vernunft in der Geschichte realisiert. Es kann natürlich nötig sein, dass ein Einzelner in der Vernunftentwicklung voran geht. Hegel sah in Napoleon den „Weltgeist zu Pferde“ verkörpert. Angela Merkel sitzt nicht zu Pferde, sie hat überhaupt nichts Herrenreiterisches an sich. Sie hat ihr Handy, damit simst sie, und manchmal telefoniert sie. Das ist schon sehr sympathisch. Oder eben, irgendwie mit Rainald Goetz gesagt, schon irre.

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Geschrieben von

Michael Angele

Ressortleiter „Debatte“

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hing er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fußball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

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