Natürlich denkt man bei Literaturpreisen aus dem europäischen Norden primär an den Nobelpreis und nicht an den Literaturpreis des Nordischen Rates. Einige Größenunterschiede liegen ja auf der Hand: Der Nobelpreis setzt einem verdienten Produzenten von Weltliteratur die Krone aufs Haupt, der Nordische Literaturpreis, wie er kurz heißt, zeichnet ein Werk eines nordischen Schriftstellers aus, das nicht älter als zwei Jahre sein darf. Der Nobelpreis ist mit zehn Millionen Schwedischer Kronen dotiert, das sind gut eine Million Euro, der Nordische Buchpreis mit 350.000 Dänischer Kronen, das sind rund 47.000 Euro. Die gibt es immerhin steuerfrei.
Seit letztem Jahr könnte man allerdings von einem Oksanen-Schub sprechen, den der Preis hierzulande erfahren hat. Sofie Oksanen, der Preisträgerin von 2010, finnischer Vater, estnische Mutter, gelang mit ihrem ausgezeichneten Werk Fegefeuer ein in 25 Länder übersetzter Bestseller. In ihrer Heimat verkaufte sich das Werk besser als Harry Potter, und auch der Freitag feierte diesen Roman, der das 20. Jahrhundert, seine Großideologie und -katastrophen am Schicksal zweier estnischer Frauen drastisch vor Augen führt. Allgemein könnte man sagen, dass über den Transmissionsriemen der skandinavischen Krimis die Neugier auf Literatur aus dem Norden gestiegen ist, in denen kein Kommissar die Hauptfigur bildet.
Das nordische Licht
Kein Preis ohne Dankesrede: In ihrer befasste sich Oksanen mit der Meinungsfreiheit, um die es „im Norden“ – wen wundert’s – nicht so schlecht stehe, wenn auch erst seit „vergleichsweise kurzer Zeit“. Ihr Dank galt ausdrücklich diesem „Norden“, und man fragt sich: Wem genau dankte sie da eigentlich? Man kann diese Frage auch Jesper Schou-Knudsen vom Nordischen Rat in Kopenhagen stellen, und er wird einem zuerst antworten, dass ihm die Klischees auch zuwider seien, aber nun gut, es gebe nun einmal dieses etwas ominöse „nordische Licht“ im Film oder eine gewisse Dominanz des kleineren Dramas, des Psychodramas in der Literatur des Nordens.
Vor allem aber ist der Norden eine Idee und ein Wirtschaftsraum. 2007 beschlossen der Nordische Rat (Zusammenarbeit der Parlamentarier) und der Nordische Ministerrat (Zusammenarbeit der Regierungen) diesen, ihren Norden als eine Region im Weltmarktgebäude zu positionieren und dafür entsprechende Massnahmen zu ergreifen. Der Nordische Literaturpreis, bei dessen Geburt der Gedanke einer nordischen Identität natürlich Pate stand, ist so gesehen einfach ein früher kulturpolitischer Vorläufer – und Sofie Oskanens Preisrede eine Reminiszenz an diese Tradition.
Wie denn überhaupt eine Tendenz zum kulturpolitischen Statement in diesen Reden zu verzeichnen sei, meint Schou-Knudsen. Fünf Länder (Schweden, Dänemark, Finnland, Norwegen und Island) und drei selbstverwaltete Gebiete (Grönland, Färör, Åland) sind am Preis beteiligt. Die Auswahl des Preisträgers erfolgt paritätisch: Jedes Land darf zwei Vorschläge machen, über den eine auch wiederum paritätisch zusammengesetzte Jury befindet. Zwei Tage wird hinter verschlossenen Türen getagt, dann steigt der weiße Rauch der nordischen Literatur auf. Der Nordische Literaturpreis schafft mit Abstand die größte mediale Aufmerksamkeit unter den Aktivitäten des Nordischen Rates, schon für die Nominierten lässt sich das an einem Plus aus den Buchverkäufen deutlich ablesen.
Demokratiekultur
Dennoch fänden es manche für‘s branding gut, wenn sich der Wettbewerbscharakter, der ihm innewohnt, noch mehr nach außen tragen ließe, etwa durch eine Live-Schaltung in die Jurydebatte. Aber am Dogma der geheimen Wahl soll nicht gerüttelt werden. Der Norden, das ist in unserem bescheidenen, semi-vorurteilhaften Verständnis eben vor allem Gleichheit, Basisdemokratie und Dutzen als Glaubensfrage. Und genau umgekehrt natürlich auch: herzliche Abneigung unter seinen Völkern, zum Beispiel in Riget (Hospital der Geister) des dänischen Regisseurs Lars von Trier, mit seinem schwedischen Klinikleiter, der über den „dänischen Abschaum“ flucht.
Aber auch da leistet der Nordische Literaturpreis gute Arbeit. Er hilft, so wird einem von Schou-Knudsen emphatisch dargelegt, solche Animositäten beizulegen. „Er ist eine herausragende Verkörperung der sogenannten nordischen Demokratiekultur“. Und wo funktioniert es noch außer bei diesem Preis? „Bei den anderen Preisen, insbesondere beim Filmpreis, aber natürlich auch bei den anderen Kulturbereichen, und den anderen Sachbereichen.“ In dieser Reihenfolge.
Dass es bei den Preisen besonders gut klappt, hat bestimmt damit zu tun, dass auf eine ausgewogene und gerechte Mischung bei den Preisträgern geachtet wird, eine Vorgabe, die aber wiederum in einer gewissen Spannung zur Maxime steht, dass es keine Rolle spielen darf, aus welchem Land, von welchem Verlag und aus welchem Genre ein Werk stammt. In der Summe spricht man dann wohl von nordischer Diplomatie oder vielleicht auch vom gauß‘schen Gesetz der Normalverteilung. Seit seinem Bestehen ging der Literaturpreis an 15 Schweden, neun Finnen, neun Dänen, neun Norweger, sechs Isländer, zwei Färörer. Ein paar Namen: Eyvind Johnson, er war 1962 der erste Preisträger, 1974 erhielt er außerdem den Nobelpreis; William Heinesen, der einzige färörische Preisträger, seine Werke wurden auf Deutsch seinerzeit bei Volk und Welt verlegt; Sigurjón Birgir Sigurðsson, besser bekannt als Sjón (mehr zu Sjón hier). Und noch mehr zu den Preisträgern erfährt man in einer Ausstellung auf der Leipziger Buchmesse.
50 Jahre Nordischer Literaturpreis Messe Leipzig, Nordisches Forum, Halle 4, Stand C 307
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