Verschwörungstheorien zu Nord-Stream-Anschlägen sind nicht nur dummes Geblubber
Ukraine-Krieg Verschwörungstheorien haben in unsicheren Zeiten eine besondere Aufgabe. Ihr Versagen bei den Anschlägen auf die Nord-Stream-Pipelines ist beunruhigend
Collage: der Freitag, Material Alamy, Imago Images
Was sagt eigentlich Ganser dazu? Der Schweizer Historiker und Publizist Daniele Ganser gilt bei vielen als „Verschwörungstheoretiker“, und das ist nicht als Kompliment gemeint. Dazu ist er sehr USA-kritisch. Man würde also annehmen, dass er die These vertritt, hinter den Sabotageakten auf „Nord Stream 1 und 2“-Röhren stecke die CIA. Ganser ist ja ein – wenn auch umstrittener – Experte auf dem Gebiet der nicht öffentlichen Interventionen von Großmächten. Nato-Geheimarmeen in Europa. Inszenierter Terror und verdeckte Kriegsführung lautet der Titel seiner Dissertation. Wer einmal einen Einblick in die Methoden des Terrors, der Destabilisierung und Desinformation einer Großmacht genommen hat, und sei sie in ihrem Selbs
ihrem Selbstverständnis noch so demokratisch, wird wohl immer mit einem Grundmisstrauen an die offizielle Leseart eines so einschneidenden Ereignisses wie den Sabotageakten in der Ostsee gehen. Und doch schweigt Ganser, zumindest öffentlich. Vielleicht ist auch das ein Zeichen, in einer Situation, in der alles zur bedeutungsschwangeren Botschaft werden kann.Aber was ist überhaupt die offizielle Lesart? Freundlich formuliert übt sich die Bundesregierung auch eine Woche nach den Sabotageakten in vornehmer Zurückhaltung. Weniger freundliche Worte fand der FDP-Politiker Gerhard Papke: „Man muss den Eindruck gewinnen, dass der Anschlag auf die Gas-Pipelines von der Bundesregierung eher achselzuckend zur Kenntnis genommen wird. Selbst die Umweltkatastrophe durch austretendes Methangas scheint bei den Grünen niemanden so richtig zu interessieren.“ Aushalten, bitte!Nun ist Papke kein unbeschriebenes Blatt, sondern für seine rechtspopulistischen Ansichten berüchtigt. Macht das seine Einschätzung unglaubwürdig? Man hat es in diesem Krieg ständig mit dem Umstand zu tun, dass die „falschen Leute“ das womöglich Richtige sagen, jedenfalls wenn man auf der Seite derer steht, die eine deeskalierende Haltung für angebracht halten: Ex-Generäle warnen vor Kriegstreiberei, die AfD schmückt sich mit der Friedenstaube. Man muss das aushalten können. Die Zurückhaltung der Grünen könnte damit zusammenhängen, dass zumindest ein unangenehmer Verdacht vorliegt. Man stelle sich vor, es war wirklich die CIA! Was wird dann aus der „robusten und geeinten Reaktion“, die der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell angedroht hat? Ramstein bombardieren? Und wo wir schon dabei sind: Was ist mit US-Präsident Joe Biden, der im Februar damit gedroht hat, Nord Stream 2 ein Ende zu bereiten und über „die Mittel“ dazu zu verfügen, oder jetzt sein Außenminister Antony Blinken, der die Attacken als „enorme Chance“ für sein Land bezeichnet hat, denn nun seien die USA der „führende Lieferant von LNG nach Europa“.Es wäre ja nicht das erste Mal, dass die USA eine russische Gasleitung sabotieren; im Sommer 1982 wurde eine Leitung in Sibirien gesprengt. Das kam aber erst zwanzig Jahre später heraus. Und die aktuelle Warnung der CIA vor einem Anschlag kann man auch vergessen. Der US-Geheimdienst hatte diesen Sommer Deutschland vor ausgespähten russischen Befürchtungen gewarnt, die Ukraine wolle einen Anschlag auf Nord Stream verüben, nicht Russland.Zurücktreten, bitte!Stopp! Es stimmt zwar, dass die vom Spiegel hinter seiner Paywall versteckte Meldung über die CIA-Warnung von den deutschen Medien ohne diesen entscheidenden Punkt übernommen wurde und dass das den meisten in den Kram passte, weil so der Eindruck entstehen konnte, die CIA warne vor einem „russischen“ Anschlag. Aber wir sollten dennoch etwas tun, was Verschwörungstheoretikern nicht leichtfällt: einen Schritt zurücktreten. Dass dieser Schritt nicht leichtfällt, ist dem Umstand geschuldet, dass Verschwörungsnarrative als eine Art Sinnbeschleuniger wirken. Wir stehen einem Geschehen nicht mehr nur ohnmächtig gegenüber, verlassen (imaginär) die Zuschauerposition, ermächtigen uns gleichsam zum Krieger in einem Computerspiel, in dem beständig neue Türen aufgehen. Anderes Bild: die See mit einem riesigen kreisrunden Strudel, aus dem es blubbert und blubbert. Wir schauen gebannt auf diesen Strudel. Als hätte David Lynch das Skript geschrieben. Unser Deutungsfuror entfaltet sich in Gesprächen, in den sozialen Medien oder einfach nur bei einem Lektüreakt – und wirkt umso intensiver, als es sich im Fall der Lecks nicht nur um eine Verschwörungstheorie handelt, hinter der vielleicht gar keine Verschwörung liegt, sondern um eine echte Verschwörung, die viele Theorien hervorbringt, wenn denn Verschwörung einfach heißt: die heimliche Verabredung zu einer Tat, die einem Gegner schaden soll. So sehen das auch „deutsche Sicherheitskreise,“ die das Täterprofil rasch gezeichnet hatten: Es käme „letztlich nur ein staatlicher Akteur“ infrage.Um die Ecke denken, bitte!Wir fühlen uns zwar wie in einem Spiel, aber es ist keins, auch das spüren wir. Entsprechend sind die Gespräche, die wir über mögliche Täter führen: halb-ironisch gemeinte Bemerkungen, leicht fiebrig-erhitzte Gedanken. Das Bild des Strudels symbolisiert ja nicht nur eine mysteriöse Wahrheit, es steht auch für die unheimliche Entgrenzung dieses Konflikts (und das ist vielleicht die Wahrheit). Wer die deutsche Medienlandschaft verfolgt, wird dieses Unbehagen in den meisten Berichten verspüren und wenig überraschend feststellen, dass die allgemeine Haltung zum Krieg in der Ukraine darüber entscheidet, wer dann doch„wahrscheinlicher“ hinter den Anschlägen vermutet wird.So erstaunt es nicht, dass der Spiegel mit seiner mäandernden aktuellen Titelgeschichte einerseits wie ein Filibuster anmutet, andererseits dann doch zur These neigt, dass es die Russen waren: Es gebe weitere Gründe, die für Russland sprächen, hieß es in den vertraulichen Runden dieser Woche, in denen die Geheimdienstler den Kanzler und andere Verantwortliche gebrieft haben. Mit der Aktion solle der Gasmarkt ins Chaos gestürzt und der Gaspreis nach oben getrieben werden, hieß es.Nun könnte man sagen, wer braucht noch vertrauliche Runden, wenn der amerikanische Außenminister die Frage nach dem Nutzen in einer Pressekonferenz beantwortet hat. Aber so einfach ist das nicht mit dem „Cui bono?“. Wer zweimal um die Ecke denkt, kann auch bei den Russen landen. Zwar fragt man sich, warum die ihre eigenen Pipelines zerstören sollten, aber ein Motiv findet sich: um Schadensersatzansprüchen wegen der Lieferstopps des Gases zu entgehen. Diese Ansprüche könnten nun durch den Verweis auf „höhere Gewalt“ abgewehrt werden, meint der ehemalige Chef des ukrainischen Konzerns Naftogaz, Andrij Koboljew.KontigenzbewusstseinStärker aber wirkt die Überzeugung, Russland schieße sich sogar ins eigene Bein, um den Westen zu spalten. Und auch dieses Narrativ des bösen Antagonisten hat ein ikonisches Bild. Es zeigt Wladimir Putin im Tauchboot im Finnischen Meerbusen 2013. Als wäre man im neuen Bond-Film.Und so kommt es, dass diejenigen, denen der Vorwurf der „Verschwörungsschwurbelei“ sonst schnell von der Hand geht – zum Beispiel in einer Pandemie –, nun mit den simplen Annahmen einer Verschwörungsmentalität operieren, wonach der Feind böse und ihm folglich alles zuzutrauen sei.Es kann nicht einmal ausgeschlossen werden, dass sie recht haben. Allerdings könnte es eben auch ganz anders gewesen sein. Man nennt das „Kontingenzbewusstsein“. Dieses unangenehme, verunsichernde Bewusstsein zu reduzieren, ist eigentlich das, was eine Verschwörungstheorie auf Kosten „der Wahrheit“ leisten soll. Dass sie es nun nicht tut, kann nicht beruhigen.
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