Ich finde es immer wieder verblüffend, wie viele geistreiche Menschen man trifft. Es sind derart viele, dass jedem, der Bücher darüber schreibt, wie und warum „wir verblöden“ (Michael Jürgs), unlautere Motive unterstellt werden müssen. Allerdings, so wenigstens meine Erfahrung, ist es mit dem Geistreichtum rasch zu Ende, wenn dieser sich im Schriftlichen zeigen soll. Wer im Gespräch eben noch einen brillanten Eindruck hinterlassen hat, liefert am nächsten Tag einen unfassbar öden Text, wenn er denn überhaupt liefern will, und nicht ambitionslos bleibt im Umgang mit seinem Geist.
Es reicht vielen Menschen eben offensichtlich, wenn sie im Mündlichen glänzen. Ist das zu beklagen? Ja, denn die Unzufriedenheit über diesen Zustand liegt am Ursprung der moderen Literatur, jedenfalls eines wichtigen Teils von ihr. „Man kann sich gut vorstellen, dass die Gattung aus der Unzufriedenheit mit der ungeheueren Vergeudung im Mündlichen entstanden ist“, schreibt Henning Ritter in seinen Notizheften. Ritter bezieht seinen Verdacht auf die Maximenliteratur der französischen Moralisten aus dem 17. Jahrhundert, auf La Rochefoucauld und die Seinen.
Aber nichts spricht dagegen, diese Theorie der Verschwendungsangst etwa auch auf die Aphoristik oder sorgar das Vollschreiben von Notizhefen anzuwenden, bis zum heutigen Tag, sofern sie auf Veröffentlichung hin geschrieben werden. Nun muss man allerdings zugeben, dass das für die wenigsten Notizhefe zutrifft. Jedenfalls nicht von Anfang an. „An eine Veröffentlichung war lange nicht gedacht“, schreibt Ritter in einer Vorbemerkung zu seinem Buch (Berlin Verlag 2010).
Es kommt noch ärger. Nicht nur, dass in vielen Fällen gar nicht an eine Veröffentlichung gedacht wurde, das Projekt wurde meistens auch gar nicht zu Ende geführt. Wie viele nur halb vollgeschriebene Notizhefe (der Marke Moleskine) liegen halbversteckt in Schränken und Sekretären, wurden zwischen Lattenrost und Matraze eingeklemmt und vergessen. Was wird der Öffentlichkeite da an Einsichten aus frühen Freud-Lektüren, Haschischräuschen, überhöhtem Liebesschmerz und Ideen für Seminararbeiten vorenthalten (der Autor denkt an seine eigenen Versuche). Was für eine Vergeudung im Schriftlichen!
Andererseits: Will man das wirklich einem Publikum zumuten? Ganz anders Henning Ritters Notizhefte: Sehr geistreich, sehr lesenswert. Warum dann in dieser Glosse nicht mehr darüber steht? Nun, da haben wir den passenden Eintrag parat: „Man liest einen Autor am oberflächlichsten, wenn man über ihn schreiben möchte. Denn man hält dann nur Ausschau nach dem, was einem für diesen Zweck dienen kann.“
Der Text erschien zuerst als Glosse im Freitag Nr. 44. Mehr zum Buch von Ritter hier
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