Rausgehen!

Entdeckungen Ist es heute noch möglich, die Natur wieder ganz einfach zu genießen, ohne den ganzen intellektuellen Tand?
Ausgabe 52/2020

Die Älteren unter Ihnen werden sich erinnern, Brechts berühmte Zeilen: „Was sind das für Zeiten / In denen ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist.“ – „Weil es das Schweigen über so viele Untaten einschließt.“ In finsterer Zeit geschrieben (1939), sollte man das Gedicht An die Nachgeborenen als Pflichtlektüre einer „Generation Woke“ verschreiben, der offensichtlich nicht ganz klar ist, dass gerade auch der aktive Mensch, der, der verändern und verbessern will, ein Gezeichneter und Fragwürdiger ist („auch der Zorn über das Unrecht macht die Stimme heiser“), aber das nur nebenbei.

Was nun aber das Gespräch über die Bäume betrifft, so hat sich die Lage verändert. Zugespitzt könnte man sagen, dass es heute, in der verschärften ökologischen Krise, schon eine Untat ist, NICHT über Bäume zu sprechen. Wie aber sieht ein solches „Gespräch“ aus, ganz praktisch gesehen? Wann hast du zuletzt mit jemandem über Bäume gesprochen? Bei mir war es vor ein paar Tagen in der Mittagspause auf dem Hegelplatz, gelegen vor der Freitag-Redaktion. Es war ein Gespräch über Birken, ein Kollege aus dem Verlag fragte mich, ob mir schon aufgefallen sei, dass die Birken aus unserer Stadt verschwänden. Nein, das war es nicht, aber jetzt, da er es sage. Er meinte dann, dass es ein gewaltiges Birkensterben in unseren Breitengraden gebe, wohl als Folge des Klimawandels. Ich habe das dann nach der Mittagspause ergoogelt, und es stimmt. Die Birke mag es nicht, wenn es im Winter zu nass und im Sommer zu trocken ist. Genau das aber bewirkt der Klimawandel

Wo alles wieder einfach wird

Während des Gesprächs kam die Rede auf unsere Kindheit, die kurz zu einer Kindheit voller Birken wurde (so ein Quatsch), und während all dem ging mir ein Lied nicht aus dem Kopf: „Ich brauch’ Tapetenwechsel, sprach die Birke / Und macht’ sich in der Dämmerung auf den Weg.“ Es stammt von Hildegard Knef. Ich wusste nicht mehr, wie es weiterging, und musste auch das ergoogeln („Ich brauche frischen Wind um meine Krone / Ich will nicht mehr in Reih und Glied in eurem Haine stehen“). Ein wunderbares Lied, der Text stammt von Hans Hammerschmid, oder hat er ihn zusammen mit der Knef geschrieben?

Was ich sagen will: Wir können so ein „Gespräch“ gar nicht führen, ohne dass es „Diskurs“ wird. Unser Bezug zur Natur ist vertextet, er ist verhext. Davon wollen wir loskommen. Wir wollen dahin, wo alles wieder einfach wird, elementar. Aber kann das gelingen? Gespräch über Bäume heißt eine Anthologie mit Naturlyrik. Besser gesagt „mit moderner deutscher Naturlyrik“. Hier fängt es doch schon an. Nur Naturlyrik wäre zu einfach. Und natürlich ist auch die moderne deutsche Lyrik selbst nicht einfach, die Natur „spricht“ zum lyrischen Ich in Rätseln, wenn sie überhaupt noch „spricht“.

Vielleicht bilden wir uns ja nur ein, dass sie „spricht“, wie im Gedicht Botschaften des Regens von Günter Eich. Es müssen schon Botschaften sein, wenn wir den Regen auf das Dach trommeln hören. Ihm einfach nur zu lauschen, wäre ... reine Stimmung. Reine Stimmung aber ist verpönt, nahe dran am Kitsch. Gut, es gibt das „Naturschöne“, das aber seit Immanuel Kant in der philosophischen Ästhetik einen meist niederen Rang einnimmt, so nach dem Motto, gibt es zwar, aber interessanter ist das „Erhabene“, ist das, was uns zu überwältigen droht und nicht einfach nur gefällt. Ein interessantes Zwischenreich bildet das „Naturschauspiel“ im 19. Jahrhundert, darüber wäre ... Stopp. Ist doch keine Vorlesung hier. Noch mal zurück zum Gespräch über Bäume. Viele Bäume bilden bekanntlich einen Wald (den wir gerade vor lauter Buchstaben nicht mehr gesehen haben, denn ja, auch Buchstaben können Bäume sein, in der Lyrik, namentlich im Symbolismus, Rückfall in die Vorlesung).

Dennoch, bleiben wir kurz bei der Literatur. Wir werden sie verlassen, versprochen, zumal dieser Text in unserer Zeitung ja hier steht, wo normalerweise gewichtige politische Beiträge zu lesen sind ... Extrem ungewöhnlich hat der Schweizer Schriftsteller Robert Walser (1878–1956) über den Wald geschrieben. Immer wieder schweift er in seiner Prosa durch Wälder, die ich eigentlich gut kennen müsste, denn es sind die Wälder meiner Heimat (des Seelands), und erkenne sie doch nicht, denn Walsers Wälder bestehen „ganz überwiegend aus topischen Elementen, die Wald eher stimmungshaft evozieren als beschreiben. Bäume, Stämme, Blätter, Vögel, Lichtung, Moos, Fels oder Steine, Mond- oder Sonnenschein lassen sich leichthin rekombinieren.“

So beschreibt es unser Literaturkolumnist, Professor Erhard Schütz in einem Vortrag über Walsers Wald, den er vergangenes Jahr vor der Robert-Walser-Gesellschaft gehalten hat. Walsers Wald kann gerade dadurch voller Stimmung sein, weil er nicht zu genau beschrieben wird. „In Walsers Texten geht es also höchst romantikaffin zu“, so Schütz weiter, es „wird waldgewandert, geruht, geschlafen, gesungen und gelauscht, und eben gesonnen und geträumt. In ihnen herrscht Stille und Andacht (…); dort ist man im Schatten oder bei Mondenschein, in Gottes- oder Pan-Natur. Aber es gibt in alledem doch allermeist eine spezifische Walser’sche Wendung – eine, die die er-schriebene Idyllik und Harmonie durch ironische oder banalisierende Wendung von sich und den Lesern ablöst. Ohne dass damit freilich deren Effekt zuvor ausgelöscht würde.“

Mit dieser Geste ist dann wohl das Maximum erreicht, das ein moderner Mensch an Naturgenuss haben kann. Gut, viele werden nun verärgert sagen: „Oh je, so kann auch nur einer schreiben, der in Berlin lebt, soll er mal zu uns aufs Land kommen, wird er dann schon lernen, wie man die Natur einfach so genießen kann.“

Langsam, langsam. Wir wollen uns ja annähern. In der Uckermark lebt und arbeitet eine Frau, die vor Jahren aus der großen Stadt aufs Land gegangen ist und mittlerweile in ihrem sogenannten Großen Garten scharenweise Menschen beherbergt (hat), die von der Stadt ins Land gehen wollen. Ich spreche von der Autorin und Filmemacherin Lola Randl, die das Dilemma des naturbedürftigen Stadtmenschen in ihren Werken, vom Film Von Blumen und Literatur bis zu ihrem neuen Buch Die Krone der Schöpfung, immer wieder thematisiert hat. Ist es ihr denn heute möglich, die Natur wieder ganz einfach, ohne den ganzen intellektuellen Tand zu genießen?

„Ich übe es. Aber leicht ist das nicht, dafür denkt man doch zu viel, oder man beobachtet sich plötzlich selbst, wie man versucht, sich an der Natur zu erfreuen. Für einzelne Momente gelingt es schon, man kann ja auch einfach so tun, als ob. Der Natur selbst ist das egal. Das Schlimme ist, die Natur kann man nicht betrügen, und wenn man sie betrügt, macht es ihr gar nichts aus.“

„Was macht Ihnen denn Freude in so einem Moment? Kann es auch ein Sonnenuntergang sein?“

Neid auf Zugvögel

„Sonnenaufgang ist besser. Der Untergang macht mir eher ein unwohles Gefühl. Am besten sind aber die Zugvögel, wenn sie sich versammeln und dann mit einem Mal einfach abhauen. Es gibt für sie nur eine einzige richtige Sache zu tun, darum beneide ich sie manchmal. Man könnte allerdings auch darauf kommen, dass man selbst auch Natur ist, mitsamt seiner Zerrissenheit. Dann könnte man sich beäugen und sich erfreuen, an seiner Zerrissenheit und den dummen Ideen.“

„Warum nur ‚könnte‘? Warum geht es noch nicht besser?“ – „Es sind die schlechten Gedanken, die tagein, tagaus gedacht werden wollen. Die Gedanken sagen einem dann: ‚Du bist doch viel besser als die Natur. Du kannst sie beherrschen. Du bist der Gott, du kannst fliegen, kannst dich austauschen mit allen Orten der Welt. Mach die Erde dir untertan.‘“

Danke für die Antworten, Lola Randl. Jetzt will ich doch auch noch den Professor Schütz fragen:

„Lieber Herr Schütz, Sie beschäftigen sich intensiv mit Naturerfahrungen in der Literatur – und also primär mit der Unfähigkeit oder Schwierigkeit des modernen Menschen, ein ungetrübtes Verhältnis zur Natur zu haben. Können Sie persönlich sich an der Natur auch einfach erfreuen?“

„Natürlich ...“

„Und was macht Ihnen Freude? Auch der Sonnenuntergang?“

„Ja, gerne auch Sonnenuntergang, ob im Garten, an der Playa de Palma oder am Starnberger See. (Und dann mit Foto, fürs Erinnern – und Vergleichen.) Ansonsten Bäume, ob einzeln oder im Rudel. Farne ganz besonders gern (selbst den verpönten Lederfarn). Oder Ringelblumen, Stockrosen, Borretsch, Rote Melde. Die Nebelkrähe, die vorm Fenster Papiertaschentücher vom Baum flattern läßt. Der Kleiber am Meisenbeutel. Mein erster Eisvogel – erst noch zu entdecken. Füchse und Dachse!“

„Wie schön! Und was hindert Sie daran, die Natur noch öfter in dieser einfachen Weise zu genießen?“

„Am Sonnenuntergang das falsche Wetter und die falsche Fensterseite. Bei den Blumen, Kräutern und Farnen der Winter. Der Asphalt, der für Dachsbauten zu undurchdringlich ist. Folglich fehlen die Füchse, weil kein Dachsbau da ist ... Vielleicht sollte ich an den Stadtrand ziehen, Füchse zählen und Wildschweine mit Pfeil und Bogen jagen?“

Und jetzt nichts mehr schreiben, sondern rausgehen.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Angele

Ressortleiter „Debatte“

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hing er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fußball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

Michael Angele

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