Immer wieder werden Stimmen laut, die eine Kultur des Irrtums fordern. Nun kann man einwenden, dass es in letzter Zeit nicht an Menschen des öffentlichen Lebens gefehlt hat, die wortreich einen Irrtum bekundet haben. Man denke an Richard David Precht, der gestanden hat, die Wehrfähigkeit der Ukraine unterschätzt zu haben, wenngleich im Einklang mit den meisten „Militärexperten“ (ist also fein raus). Oder an Karl Lauterbach, der nach „heutigem Wissen“ das Schließen der Kitas im ersten Jahr der Pandemie für nicht mehr „angemessen“ hält. Nun, ich war überrascht, überhaupt von Karl Lauterbach zu hören. Es ist still um ihn geworden.
Womit wir beim Schweigen wären. Vermutlich war die Zurückhaltung des
ltung des deutschen Gesundheitsministers nicht selbst gewählt, sondern den gnadenlosen Zyklen der Aufmerksamkeitsökonomie geschuldet. Auch von Lauterbachs Chef hört man nicht viel. Ist Ihnen aufgefallen, wie schweigsam der sonst so diskursfreudige Generalsekretär der SPD geworden ist? Allerdings dürfte Kevin Kühnerts Schweigen weniger der Einsicht in die Angemessenheit einer solchen Haltung entsprungen sein als vielmehr einer innerparteilichen Auseinandersetzung, vielleicht mit seinem Parteivorsitzenden Lars Klingbeil.Um Maulkörbe soll es hier nicht gehen. Sondern um ein Schweigen aus Einsicht, um ein Schweigen, in dem sich eine Wahrheit zeigt. Wenn ich mit Bekannten über den Ukrainekrieg spreche, stelle ich mittlerweile eine große Zurückhaltung fest, auch bei denen, die eine starke Meinung hatten; es wird relativiert, abgewägt, auf eine forsche Behauptung von mir auch einfach mal mit der Schulter gezuckt.Wer schweigt, ist nicht daVielleicht einfach mal nichts sagen: Diese Haltung befällt auch Menschen, die sonst von der Öffentlichkeit gehört werden wollen. Ich finde sie angemessen. Allerdings verhält es sich hier wie mit Millionären, die still und heimlich enorme Summen spenden: Sie können sich von ihrer guten Tat nichts kaufen. Vor allem nicht das wichtigste Gut in einer postreligiösen Gesellschaft: Anerkennung. Wer schweigt, ist nicht da.Was mehr als eine Kultur des Irrtums schmerzlich fehlt, ist also eine Kultur des Schweigens. Das meint: seiner Würdigung, erst mal überhaupt seiner öffentlichen Wahrnehmung, eingedenk, dass Schweigen allem widerspricht, was unsere moderne Gesellschaft ausmacht, die auf einem kommunikativen Imperativ beruht: Teile dich mit! Das lernen schon die Kleinsten. Wer in der Schule schweigt, wird aufgefordert, sich „am Unterricht zu beteiligen“. Und so geht es weiter. Im Kulturbetrieb ist Schweigen außer in der bildenden Kunst keine Münze.Ein Buch, das nicht geschrieben wird, wirft keinen Ertrag ab, ein Leitartikel, der verworfen wird, ist ein großes Ärgernis für den Redakteur, eine Talkshow, der man fern bleibt, ruft den Konkurrenten auf den Plan. Die einzige mir bekannte Ausnahme der Würdigung des Schweigens in der jüngeren deutschen Kulturgeschichte ist der Karl-Kraus-Preis. Immerhin mit 10.000 Euro dotiert, wurde er vom Konkret-Herausgeber Hermann L. Gremliza an Autoren, verliehen, die sich verpflichten mussten, in ihrem Leben keine einzige Zeile mehr zu veröffentlichen.Dieser Preis war primär natürlich nicht „für“ das Schweigen, sondern gegen die Geschwätzigkeit. Belohnt werden müsste aber das beredete Schweigen, das „donnernde Schweigen“, von dem im Zen-Buddhismus die Rede ist. Eine neue Kultur des Schweigens könnte hier oder an der klösterlichen Tradition Anleihen nehmen. Umso mehr, als der moderne Intellektuelle in seinem Habitus ja ein Nachfahre der Mönche des Mittelalters ist. Inspiration fände man etwa beim Kartäuser-Orden.Interessant: Selbst in einem Schweigeorden schweigen nicht alle Mönche, das tiefe Schweigen der einen muss von den anderen organisiert werden (mehr dazu im Band Reden und Schweigen von Niklas Luhmann und Peter Fuchs). Auf heute übertragen könnte man sich zum Beispiel vorstellen, dass analog zu den Nachrufen und Obituarien in Zeitungen oder Blogs das Schweigen der Personen des öffentlichen Lebens erfasst und durch prominente Autoren gewürdigt wird. Hat Peter Handke eigentlich schon was zum Ukrainekrieg gesagt?