Salzstangen, zur Not

Literatur Knausgård, die Nobelpreisträgerin und eine kleine Umfrage belegen: Die Fiktion steckt in der Krise
Ausgabe 42/2015

Wer mich fragt, welchen guten Roman ich zuletzt gelesen habe, darf nicht mit einer raschen und klaren Antwort rechnen. Ich werde rot, Namen rauschen durch den Kopf, es sind die Namen von Toten und Werken aus unvordenklichen Zeiten, schließlich japse ich seit vielleicht zwei Jahren meistens: „Knausgård.“ Uff, gerade noch die Kurve gekriegt. Vor ein paar Wochen lautete mein Tipp: Lies doch das Buch von Peter Pomerantsev über das Russland der Nullerjahre.

Es ist kein Roman, sondern eine Reportagensammlung. Aber kein Roman könnte das Fieber, die Gier und die Angst der russischen Gesellschaft besser illustrieren als dieser Bericht. Ein paar Wochen vorher hätte ich vielleicht die Autobiografie von John Lydon empfohlen oder eine Biografie über Josef Stalin, denn ich lese nach Feierabend gerade sehr viele Autobiografien und Biografien, es geht mir hier nicht anders als einem 50-jährigen Abteilungsleiter eines mittelgroßen Unternehmens.

Die zwölf Apostel

Aber anders als dieser Unternehmer lese ich nicht ohne schlechtes Gewissen, denn uns wurde gelehrt, dass die Biografie eine besonders anspruchslose literarische Gattung sei. Die „Emigrationsliteratur des deutschen Bürgertums“ nannte sie der marxistische Literaturkritiker Leo Löwenthal einmal, das ist lange her, das Bürgertum ist heute auch ohne Literatur weitgehend emigriert, und es gibt längst nicht mehr nur die Biografien der „großen Männer“ wie zu Löwenthals Zeit. Und doch haftet dem Konsum von Biografien immer noch etwas Illegitimes an.

Ein Gefühl, das noch verstärkt wird, wenn zwischen zwei Biografien ein Krimi fällt, das fühlt sich dann ungefähr so an, wie wenn man zwischen zwei Tafeln Ritter Sport eine Packung Chipsletten schiebt. Und noch einmal schlechter wird das Gewissen, wenn ein Buchpreis ansteht und Longlist und Shortlist des Preises bekannt sind und diskutiert werden müssen. Dann muss man zu den Salzstangen übergehen.

Meine Salzstange des diesjährigen Buchpreises sollte Monique Schwitter werden. Ich hatte einige positive Rezensionen von Eins im Andern überflogen. Ein Buch über zwölf verflossene Liebhaber, las ich nun und wurde verstimmt. Warum gerade zwölf? Man ahnt es. „Zwölf Männer werden es sein, wie die Apostel, sie gibt ihnen zumeist die Namen von Jüngern Jesu.“ Ich fand diesen „literarischen“ Einfall so albern, dass ich von meinem Vorhaben abkam. Aber die Sache beschäftigte mich.

„Ist meine Unlust an diesen Romanen eigentlich nur mein Problem?“, fragte ich auf Facebook. Es stellte sich rasch heraus, dass es nicht nur mein Problem zu sein scheint. Viele meiner Freunde haben dem Roman den Rücken gekehrt, manche nur dem deutschen Gegenwartsroman, andere dem Gegenwartsroman überhaupt. Nun war es schon zu meiner Studienzeit so, dass es Snobs gab, die außer Arno Schmidt nichts aus dem 20. Jahrhundert lasen. Aber die meine ich nicht.

Eine gute Autobiografie

Ich meine auch nicht die Menschen, die das Lesen von Büchern praktisch eingestellt haben, seit sie ein Abo von Netflix haben („ist ja monatlich kündbar“). Ich meine Menschen, die immer noch viele Bücher lesen und solche Kommentare unter meinen Eintrag geschrieben haben: „Ich lese auch am liebsten Biografien. Ich denke auch, dass das ein übergreifendes Phänomen ist. Wozu Fiktion, wenn doch die Wirklichkeit viel spannender ist.“ Wozu Fiktion, wenn doch die Wirklichkeit viel spannender ist – das scheint mir ein Schlüsselsatz für unsere heutige Befindlichkeit zu sein. Der Eintrag stammte übrigens von einer Frau, wie auch andere Bekenntnisse zur Biografie. Das mag das nur sanft ironische Diktum eines Kollegen von der Welt relativieren, wonach es ein „durch Statistiken erwiesenes biologisches Faktum“ sei, in „das man nicht allzu viel hineininterpretieren sollte: Männer hören mit ungefähr 50 Jahren auf, Belletristik zu lesen und sich für neue Popmusik zu interessieren“.

Ein anderer zitierte den Musiker David Callahan, der, auf seine große Nonfiction- und seine kleine belletristische Bibliothek angesprochen, zwingend antwortete: „Life is too short to read other people’s fantasies.“ Das Leben ist zu kurz, um anderer Leute Fantasien zu lesen. Mal abgesehen davon, dass es eine breites Interesse an Fantasyliteratur gibt: Traut man der fiktionalen Literatur nicht mehr die „welterschließende Kraft“ zu, die der eigentlich recht prosaische Philosoph Jürgen Habermas ihr einmal zugestanden hatte? Ganz zu schweigen von ihrer weltverbessernden Kraft? Die Fiktion hat aktuell ein Problem, so scheint es. Und doch ist die Lage komplizierter.

Einige argumentierten völlig zu Recht, dass die „besten“ Romane schon immer auch verdichtetes Leben waren, oder es wurde auf literarische Biografien wie Laufen hingewiesen, ein offenbar sehr gewitztes Buch über Emil Zátopek von Jean Echenoz. Hinzu kommt der durchschlagende Erfolg des „erzählenden Sachbuchs“, das Elemente der Biografie, der Reportage und der Abhandlung vereinigt, kurzum: Die „schöne Literatur“ hat sich einfach auch diversifiziert, der Roman ist eines unter verschiedenen Angeboten.

Eine rein äußerliche Entscheidung

Damit könnte man es vielleicht bewenden lassen, wenn nicht zwei aktuelle Phänomene zu denken gäben. „Die Lösung: Knausgård“, schaltete sich der Schriftsteller Joachim Lottmann in die kleine Debatte ein ...Natürlich! Bekanntlich erzählt Karl Ove Knausgård in den sechs Bänden von Min kamp sein Leben. Der nun ins Deutsche übersetzte, enorm erfolgreiche fünfte Band Träumen erzählt konkret, wie Knausgård in der norwegischen Stadt Bergen versucht, ein Schriftsteller zu werden, erzählt von seinem Bruder, von seinen Freundinnen, von seinen Pflegerjobs, von der Band, in der er Schlagzeug spielte, und von unzähligen Details aus dem Leben des Mannes, der Karl Ove Knausgård heißt. Und doch nennt der deutsche Verlag Träumen einen „Roman“, und nicht eine „Autobiografie“.

Eine rein äußerliche Entscheidung, meiner Meinung nach: Wenn eine Autobiografie auf dem Markt erfolgreich sein soll, hat sie von einem Mann oder einer Frau geschrieben zu werden, die durch eine Leistung bekannt wurde, die nicht im Schreiben der Autobiografie selbst liegen kann, ja häufig noch nicht einmal im Schreiben überhaupt (die erfolgreichste Autobiografie auf dem deutschen Markt in diesem Jahr stammt von dem TV-Moderator und Werbetreibenden Thomas Gottschalk). Knausgård wäre, bei Lichte besehen, der erste Schriftsteller, der durch eine Autobiografie und sonst nichts bekannt wurde.

Das heißt also, er wäre gar nicht bekannt geworden (ähnlich, aber etwas komplexer liegt der Fall bei Proust).

Sieht man also von diesem Trick ab, so muss man einfach sagen, dass Knausgård eine verdammt gute Autobiografie geschrieben hat, in der sogar noch das Nachdenken über das Verhältnis von Fiktion und Nichtfiktion erinnert wird (habe die Stelle gerade nicht im Kopf). Das Argument, dass Knausgård, obwohl er so viele Details erinnert, vieles auch nicht erinnert – angeblich kommen etliche Liebschaften gar nicht erst vor –, ist dabei keins, keine Autobiografie erzählt das ganze Leben.

Reportagen

Um David Callahan also ein wenig zu variieren: Das Leben mag zu kurz sein, um anderer Leute Fantasien zu lesen. Aber es ist natürlich nicht zu kurz, um anderer Leute Leben zu lesen, wenn sie einem so eindringlich wie Knausgård das Gefühl geben, es betreffe das eigene!

Und natürlich ist das Leben auch nicht zu kurz, um das zu lesen, was David Callahan wohl auch in seiner Nonfiction-Bibliothek stehen hat: Reportagen. Reportagen, wie sie etwa Swetlana Alexijewitsch seit Jahren schreibt. Gibt es ein stärkeres Argument für die aktuelle Krise der Fiktion als die Trägerin des Literaturnobelpreises 2015? Secondhand-Zeit, ihr letztes Buch (siehe Freitag 39/2013), für das sie schon den deutschen Friedenspreis bekam, ist, wenn man es genau haben will: ein Interviewband. Sie hat mit zahlreichen russischen Bürgern und Bürgerinnen über ihre Gefühle nach dem Zusammenbruch des Sowjetreichs gesprochen und diese Gespräche protokolliert.

Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen: Es ist ein packendes Buch, aber es ist nicht Fiktion. So sieht das auch Iris Radisch von der Zeit, die daraus einen Vorwurf ableitet: „Literatur muss etwas Schöpferisches haben. Sie muss ‚fiction‘, eine eigene Erfindung sein, sie muss eine besondere Sprachqualität haben, und sie muss – das ist ganz wichtig – eine eigene imaginative und weltverwandelnde Kraft haben. Das ist bei Swetlana Alexijewitsch nicht der Fall. Das ist keine Literatur.“

So kann man das sehen. Aber mir fehlt gerade etwas der Glauben an die weltverwandelnde Kraft der Fiktion, um mich wie Frau Radisch über diesen Sachverhalt aufzuregen.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Angele

Ressortleiter „Debatte“

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hing er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fußball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

Michael Angele

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