„Schön absurd, oder?“

Literatur Interessant ist, was aus dem Zusammenhang fällt: Ein Gespräch mit Gisela von Wysocki über das Schreiben und ihren ehemaligen Lehrer Theodor W. Adorno
Ausgabe 46/2021
Ihr Schreiben ist womöglich ein Gegenzauber zu den magisch anmutenden Schattenspielen ihres Vaters
Ihr Schreiben ist womöglich ein Gegenzauber zu den magisch anmutenden Schattenspielen ihres Vaters

Foto: Getty Images

Ihr letzter Roman Wiesengrund wurde von der Kritik gefeiert. Wie es zu dem Buch über ihren Lehrer Adorno kam, erzählt Gisela von Wysocki in ihrem neuen Wurf: Der hingestreckte Sommer. Sie erzählt es auf ihre Weise, das heißt erst mal als ein Scheitern. Was ist das für ein Buch,? Ist es ein Geschichtenband? Nein, Prosa, das ist es schon, aber genauer? Fangen wir doch erst mal mit dem Titel an.

der Freitag: Frau von Wysocki, mir gefällt der Buchtitel „Der hingestreckte Sommer“. Wie kamen Sie auf ihn?

Gisela von Wysocki: Man hört ihm eine gewisse Unstimmigkeit an. Aber auch die Entschiedenheit seiner Setzung, sie bringt die Poesie mit.

Apropos „hingestreckt“: Wie lange haben Sie am neuen Buch gearbeitet?

Lange. Man kann das Schreiben eines Buches mit niemandem teilen. Man ist in das Buch eingesperrt. Nach Abgabe des Manuskripts musste ich schauen, wieder auf die Beine zu kommen. In dieser Zeit war ich zu einem Abendessen bei guten Freunden eingeladen. Da war ich ein schräger, aus der Zeit herausgefallener Vogel, das Reden fiel mir schwer.

Ihr Vater hatte das Zeug zu einem Zauberkünstler. Ist etwas von seiner Zauberkraft in Ihren Umgang mit Sprache eingegangen?

Diese Frage hat mir noch niemand gestellt. Aufregend. Ich sehe seine Schattenspiele vor mir, lebendige Tiere laufen an den Zimmerwänden entlang. Ich hatte den Vater im Verdacht, rund um sich herum die Dinge magisch codiert zu haben. Er hatte sie in eine Folge von Darbietungen verwandelt. Vielleicht packt mich einmal die Idee, einen Essay über mich selbst zu verfassen. Er könnte darauf hinauslaufen, mein Schreiben als Gegenzauber aufzudecken.

Sie schreiben, „erst, wenn er am Klavier saß, war er wieder erkennbar für mich“. Ihr Vater konnte also sehr fremd werden für Sie. Wann ist Ihnen der Gedanke gekommen, in einer Familie aufgewachsen zu sein, die literarischen Stoff bereithält?

Spät. Das Philosophiestudium bei Adorno trennte mich, wie ich glaubte für immer, von den Chansons und Couplets, die bei uns praktizierte Form der Hausmusik. Im Grunde aber verdanke ich es ihr, der Philosophie, ihrem Reichtum, die von mir verschmähte, ausquartierte Kindheit freizulassen. Und einen ganzen Roman über sie zu schreiben. Sein Titel war Wir machen Musik.

Leben. Schreiben. In welcher Beziehung steht das zueinander?

Ich kann die Dinge deutlicher sehen, wenn sie in einem meiner Texte auftauchen. Dann stehe ich auf einmal meinem eigenen Leben als Lesende gegenüber. Kann mir anschauen, welche Erfindungen dazu führten, die Konturen zu schärfen. Sie für mich erkennbarer zu machen. Der französische Philosoph Gaston Bachelard nennt so was „objektive Träume“. Sie spielen, wie er einleuchtend ausgeführt hat, nicht nur für die Dichter eine Rolle. Für alle Menschen. Ohne dieses mitlaufende Imaginarium würde die Welt uns unbeholfen, zerfasert vor die Augen treten. „Die Dinge erscheinen nicht dort, wo sie sind, sondern dort, wo man sie erwartet“, sagte er.

Zur Person

Gisela von Wysocki wurde 1940 in Berlin geboren, ihr Vater Georg war Schallplattenproduzent. Jugend im Osthavelland, Promotion zur Philosophin in Frankfurt, heute lebt sie wieder in Berlin. Der hingestreckte Sommer erscheint am 21. November (Suhrkamp, 252 S., 24 €)

Weiblich ist ihr Schreiben schon, aber nicht direkt feministisch, so mein Eindruck. Teilen Sie ihn?

In den achtziger Jahren machte man in Frankreich die Unterscheidung zwischen dem „sozialen“ und dem„kulturellen“ Feminismus. Letzterer wäre wohl mein Revier, hier ging es nicht um Ausgrenzungen. Das sogenannte „Andere“ wurde respektiert. Mich beschäftigt, seit meinem Buch Die Fröste der Freiheit, die Frage nach den Besonderheiten weiblicher Schreibweisen. Woolf, Fleißer, Duras. Lydia Davis, Rose Ausländer. In meinem neuen Buch taucht der Ausdruck Salto-mortale-Sprache auf, dabei geht’s um die Wiener Autorin Mela Hartwig. Frauen verkörpern die Realität eines Geschlechts, das lange ohne die Erfahrung der eigenen Geschichtsschreibung geblieben ist. Meine Frage war und ist es, was ist an deren Stelle gerückt?

Sie schreiben über Episoden Ihrer Kindheit, Momentaufnahmen Ihrer Familie, Szenen aus dem Studentenleben. Warum scheint es mir trotzdem falsch, Ihre Bücher autobiografisch zu nennen?

Ich kann Ihre Zweifel nur bestärken. Ich denke, Autobiografien zeigen ein aufgeräumtes Leben, ihr Zugriff aus der Retrospektive erschafft überblickbare Realitäten und Abläufe. Also den Papiertiger-Tatbestand. Mein Schreiben macht eher in unbegradigten Verhältnissen Halt. Mich zieht das aus Zusammenhängen Herausgesprengte an. Es bringt Gegenwärtigkeit mit. Plastizität. Eine unverbrauchte Beredsamkeit. Oft von bühnenhafter Präsenz.

Dem Leser wird von Ihnen, der Autorin, so paradoxerweise ein sehr konkturenreiches Bild geboten. Aber welches Bild haben Sie eigentlich von Ihren Lesern?

Meine Antwort wird Sie enttäuschen. In Wirklichkeit ist da niemand. Ich bin vernarrt in den Gedanken, die Lesenden meiner Bücher nicht zu kennen. Dieses Nichtwissen ist eine enorme Triebkraft, es hält den Platz frei.

Sie werden auch durch bekannte Figuren inspiriert. Chaplin oder den Diamantschleifer Tolkowsky. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, dass er nach perfekter Arbeit ins Bistro geht und sich Kaffee über die Krawatte schüttet?

Schöne Frage. Drei Jahre lang haust Monsieur Tolkowsky in einem von Scheinwerferlicht ausgeleuchtetem Loft, umgeben von Zeichengeräten, Meißeln, Feilen und Sonden. Damit beschäftigt, dem größten lupenreinen Diamanten der Welt die Form eines Herzens zu verpassen. Es ist sein erstes Frühstück „danach“. Eine heimliche Botschaft geht an den Diamanten. Ihm flüstert er zu, „don’t forget me, my heart“, da geschieht das Missgeschick mit der Kaffeetasse. Wie wird er leben ohne ihn, den Diamanten? Es wird nicht klappen.

Eine gewisse Detailversessenheit fällt auf. In einem Wiener Kino bitten Sie den Angestellten, die Lautstärke des Tons zu reduzieren. Warum die minutiöse Genauigkeit, mit der Sie seine Versuche schildern?

Tiefe erwächst aus der Transparenz der Oberfläche. Der Mann war zuständig für die Entwertung der Eintrittskarten. Die unendliche Geduld, mit der er sich meiner Bitte annahm, erinnerte mich an Grillparzers Erzählung vom Armen Spielmann. Plötzlich wieselte da eine emblematische Figur um mich herum. In der Hand die Entwerterzange, tauchte er immer und immer wieder auf, um sich mit mir über die Lautstärkenabstufung zu beraten. Nachrückende Kinobesucher warteten auf Einlass. Warteten auf ihn, den Kontrolleur. Und auf die Zange. Währenddessen durfte ich die Erfahrung einer unvergesslichen Fürsorglichkeit, Hingabe machen. Für ihn war ich nicht mehr als ein im Dunklen sich abzeichnender Umriss. Irgendwo in Randnähe einer Sitzreihe.

Trifft die Bezeichnung „Geschichten“ für Ihre Prosa überhaupt zu?

Ich möchte auf den Mann im Bistro zurückkommen. Was mich anzieht, ist sein „Beiseitesprechen“, sein Scheitern. Der Wechsel vom Scheinwerferlicht dorthin, wo die unterbelichteten Motive ein Zeichen geben.

Ich denke, dass Adorno Ihr Buch gemocht hätte. Was meinen Sie?

In seinen Tagebucheintragungen, da war er noch ein Schüler, beklagt er bitterlich seine misslungene Kurzprosa. Für ihre Schwäche macht er drei wahre Textkiller verantwortlich, „Schwerkraft“, „Belesenheiten“, „Maskenfülle“. Sollte allein schon eine dieser Eigenschaften auf mein Buch zutreffen, dann hätte er es nicht gemocht! Er hätte es ohne zu zögern zu erkennen gegeben. Und neue Gedanken ins Spiel gebracht.

Kann man bei ihm überhaupt von einem „Lehrer“ sprechen?

Im Hörsaal, auf dem Podium, machte er eher den Eindruck eines Ausrufers, dem nach dem Fall von Europa eine Konkursmasse zugefallen war. Ein Denken, viel zu radikal, zu dringlich, um als Lehrstoff durchzugehen. Adorno fragte mich einmal, vollkommen ratlos, warum es in seinen Seminaren so selten zu Wortmeldungen käme. Nicht nur ich, wir alle waren damit beschäftigt, dieses Wesen dort auf dem Podium, diesen wundersamen Obelisken, zu studieren. Dabei war ich immer davon überzeugt, dass uns dennoch das Entscheidende nicht entging. Gelebte Nachdenklichkeit. Man hat sie nicht nachvollzogen. Sie hat einfach gezündet.

Adorno liebte Tiere. Gibt es eines, über das Sie niemals schreiben würden?

Nie im Leben … über eine Schlange. Weil ihre Gefährlichkeit, ihr Bedrohungspotenzial so gewohnheitsmäßig, so platt im Vordergrund steht. In meinem Buch spielt sie nun eine richtig große Rolle. Nicht nur, dass sie hier den längsten Text abbekommen hat. Er ist auch noch Titel des Buches geworden. Schön absurd, oder?

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Angele

Ressortleiter „Debatte“

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hing er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fußball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

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