Ivan Ergić: „Mit Epik und Dramatik verkommt Fußball zum Gladiatoren-Spektakel“
Interview Der Marxist, ehemalige serbische Fußball-Nationalspieler und heutige Lyriker Ivan Ergić spricht über die Fußball-WM in Katar, den Kapitalismus und die Kunst des Spiels
In Basel gönnt sich Arbeiteraristokratie nach erfolgreichem Kampf für ihre Interessen Champagner. Mit Pokal: der Lyriker Ivan Ergić
Foto: Ulmer/Imago Images
Hätte er nicht unter Depressionen gelitten, die er öffentlich machte, wäre er wohl zum Weltstar gereift. Aber so wurde er 2001 von Juventus Turin an den FC Basel verkauft, wo er das Publikum nicht nur mit seiner Spielkunst faszinierte, sondern auch als ein Fußballer galt, der „etwas auf dem Kasten“ hat.
der Freitag: Herr Ergić, nun hat es beim Spiel Schweiz gegen Serbien doch noch ein wenig Ärger gegeben.
Ivan Ergić: Schon bei der letzten Begegnung der beiden hat man gesehen, dass sich der Spruch „ein Fußballspiel ist die Fortsetzung des Kriegs mit anderen Mitteln“ ein bisschen bewahrheitet. Ich frage mich, wann das endlich aufhört, vor allem auf dem Balkan. Das hat nicht viel mit großen Emotionen zu tun, wie sie behau
hört, vor allem auf dem Balkan. Das hat nicht viel mit großen Emotionen zu tun, wie sie behaupten, sondern mit unguten Affekten.Sie selbst haben ja auch für die serbische Nationalmannschaft gespielt. Bei der WM 2006 in Deutschland bestritten Sie die drei Spiele der Vorrunde.Das stimmt. Obwohl ich manchmal so rüberkomme, bin ich nicht ohne Nationalgefühl. Aus diesem Grund habe ich mich auch für Serbien entschieden – und nicht für Australien, obwohl ich beide Staatsbürgerschaften habe. Ich weiß also ein bisschen, wovon ich spreche. Für mich ist Nationalismus der Reflex auf eine globalisierte Welt, auf eine wirtschaftliche und kulturelle Hegemonien, denen kleinere Nationen ausgesetzt sind. Nationalismus ist aber selbst destruktiv. Man bräuchte einen Internationalismus mit Vision.Man kann viel Schlechtes über die Profi-Ligen sagen, aber ein wenig kommt dieser Internationalismus da ja zum Vorschein. Bei Basel haben Sie zum Bespiel mit dem Kroaten Ivan Rakitić zusammengespielt, der dann zu Barcelona wechselte. Von Problemen hört man nie etwas.Damals hatten wir über zehn Spieler aus dem ehemaligen Jugoslawien! Nicht ein einziges Mal gab es ein Problem. Es herrschte gegenseitiger Respekt, oftmals war es reiner Spaß. Natürlich habe ich auch als Kapitän dafür gesorgt, dass es zwischen uns nie zu ethnischen Problemen kam, obwohl jeder Spieler sicher eine eigene Meinung zum Krieg hatte. Basel ist tolerant, multikulturell, es wäre ein importiertes Problem gewesen.Was meinen Sie damit genau?Es ist lustig zu beobachten, dass Ex-Jugoslawen in verschiedenen Milieus gut miteinander umgehen können, dass das aber in unseren Herkunftsländern nicht immer klappt. Da könnte man wirklich zu einem, von gewissen intellektuellen Kreisen propagierten, aber gefährlichen Schluss kommen, dass wir nur unter „Fremdherrschaft“ oder mit Autoritarismus gut miteinander leben können. Ich finde, wir sind schon fähig, unser politisches Schicksal selbst zu gestalten, aber es wird wohl noch eine Generation dauern.Serbien ist jetzt ja raus. Wenden wir uns mal dem Spiel selbst zu. Ich finde, es gibt sehr viele interessante Spiele bei der WM.Kann sein, aber ich persönlich finde die Entwicklung des Fußballs insgesamt nicht gut, „das Physische“ wird immer stärker. Das Spiel hat sich in Richtung Wissenschaft, nicht Kunst entwickelt. Leistungsoptimierung und Funktionalität, darum geht es.„Mir fehlt die Lyrik in unserem Fußball, Epik und Dramatik gibt es genug“, haben Sie mal gesagt. Wie meinten Sie das genau?Ich meinte schlicht die Schönheit des Spiels. Sehen Sie, Trainer, die als große Strategen galten, hatten lange behauptet, dass eine hohe Spielkultur mit einem am Resultat orientierten Spiel nicht vereinbar ist. Und dann kam Barcelona. Und dominierte den europäischen Fußball ein Jahrzehnt lang mit einer unglaublichen Kunst, individualistisch und kollektivistisch.Da spricht einer, der im zentralen Mittelfeld gezaubert hat. Aber kann man diese Schönheit so noch zur Geltung bringen?Wichtiger als die großen Strategen sind die Trainer in den Jugendmannschaften, ist die spielerische Erziehung jedes einzelnen Spielers. Mit Epik und Dramatik verkommt Fußball zum Gladiatoren-Spektakel. Ohne diese Lyrik kann Fußball nicht zu einem Gesamtkunstwerk werden. Den Anspruch habe ich schon. Ich weiß, ich klinge jetzt wie ein Fußballromantiker, das mag ich eigentlich nicht, aber ich denke so, weil ich eine solche Kunst für möglich halte.Placeholder infobox-1Sie sprechen ja nicht nur von der Lyrik im Fußball. Sie haben nach ihrem Karriereende angefangen zu schreiben, bisher sind in Serbien drei Bände Lyrik erschienen. Gibt es ein Gedicht über Fußball?Nein. Für mich ist Poesie ein Ort, an dem ich mich emotional und geistig verstecken kann. Ich glaube immer noch an die Unschuld von Poesie. Da kann man sich selbst sein. Obwohl ich mir auch als Spieler einen gewissen Raum erkämpft habe, in dem ich authentisch sein konnte, musste ich viele Kompromisse eingehen. Das will ich nicht, wenn ich schreibe.Von Basel sind Sie 2009 zu Bursaspor gewechselt und wurden überraschend türkischer Meister.Wir waren Underdogs, mit einem zehnmal kleineren Budget als die Vereine aus Istanbul. Auch der Transfer selbst war überraschend. Es schien ja, dass ich mit 28 keinen Klub mehr finden würde. Ich galt unter Trainern als „kompliziert“.Anders als noch zu Ihrer Zeit, als Sie eine Ausnahme waren und als „kompliziert“ galten, gehört es in Katar zum guten Ton, wenn sich die Spieler politisch zu Wort melden. Wie beurteilen Sie das?Für mich ist jede wichtige gesellschaftliche Erscheinung politisch. Und also auch der Sport. Ich freue mich, wenn ich Sportler sehe, die sich trauen, ihre politische Meinung zu äußern. Aber das sollte eine durchdachte und informierte Meinung oder Einstellung sein. Viele Fußballfans empfinden einen tiefen Widerspruch. Sie lieben das Spiel, aber sie verachten die Hyperkommerzialisierung des Fußballs. Kommt Ihnen dieser Widerspruch vertraut vor?Natürlich. Wie viele Fans fühlte auch ich mich oft machtlos. Ich habe zuerst auf dem Platz gespürt, dass man spielerisch eingeschränkt ist. Daraus entwickelte ich ein Bewusstsein für Gesetzlichkeiten und Imperative, die einen Spieler als kreativen Menschen einengen, weil nur Sieg und Erfolg zählen. Dann wurde mir das andere Problem bewusst: Wie kann man als Profifußballer kritisch gegenüber gesellschaftlichen Fehlentwicklungen sein? Kannst du sagen, dass Kapitalismus Kriege führt, unsere Erde vernichtet und am Schluss also auch den Fußball kaputtmacht, und gleichzeitig dein gutes Gehalt damit verdienen? Denn es ist ja so, auch wenn die Sprache heute vieles weichspült: Ein Kapitalist lebt von der Ausbeutung der Arbeiter, und wir Fußballer sind im Grunde genommen die Arbeiteraristokratie.Und wie sind Sie diesem Problem begegnet?Ich habe versucht, ehrlich und antikonformistisch zu agieren. Ich glaube, ein Teil unserer Fans und der Öffentlichkeit hat mir das geglaubt. Ich habe das Glück gehabt, dass sich mit dem Klub mehr als nur ein Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhältnis entwickelte.Dieses „Mehr“ zeigte sich in Ihrem intensiven Verhältnis zu den Fans ... Aber Sie haben auch gesagt, es wäre schön, wenn die Kurve weniger machohaft wäre, diverser, mehr Frauen.Ich habe mich mit gewissen Werten der Kurve identifiziert, vor allem mit der Einstellung, dass Erfolg nicht alles im Leben ist, ...... „Erfolg isch nid alles im Läbe“, ein Songs der Basel-Ultras ...... sondern auch Loyalität wichtig ist. Super finde ich auch, dass es in der Schweiz keinen Starkult gibt, weil Verehrung und übertriebene Bewunderung für mich ein Art Entfremdung sind. Natürlich habe ich die Sache mit der mangelnden Anzahl von Frauen bemerkt und mit unseren Fans oft darüber gesprochen. Aber so ist es überall. Ich verstehe nicht, warum so viele europäische Fans den FC Liverpool und andere ursprüngliche Arbeitervereine romantisieren. Meine Frage ist immer: Wenn Fußball damals für die Arbeiterklasse einen emanzipatorischen Charakter hatte, wo sind dann jetzt Frauen? Das wäre emanzipatorisch. Aber leider ist es so, dass der Fußball vielerorts die letzte Bastion der Männlichkeit ist.Jetzt mal ehrlich, interessieren Sie sich überhaupt für diese Weltmeisterschaft?Nicht besonders, natürlich bin ich immer noch ein großer Fußballliebhaber, aber wie vielen Liebhabern ist auch mir diese WM unsympathisch. Mich interessieren gerade mehr die politischen Zusammenhänge.Sie pendeln zwischen Basel und Belgrad. Ich denke, dass der Krieg gegen die Ukraine in Serbien stärker im Bewusstsein ist.Natürlich spüre ich in Belgrad, dass der Krieg viel näher ist. Man trifft viele Russen und Ukrainer auf den Straßen. In Belgrad selbst gibt es mehr als 100.000 Menschen aus Russland.Serbien nimmt damit eine Ausnahmestellung ein.Wir haben im Moment eine der schlimmsten Regierungen der letzten 30 Jahre. Aber was sie gut macht, ist, dass sie versucht, neutral zu bleiben. Obwohl es oft um reinen Populismus geht, kann man nicht einfach das Volksempfinden ignorieren. Generell ist Serbien geistig, aber auch sicherheitspolitisch und wirtschaftlich zwischen Europa und Russland gespalten. Ich bin Realist, in der Geopolitik geht es oft viel mehr um nationale Interessen als um politische Werte oder Sentimentalismus. Und da ist noch was.Ja?Ich sehe eine gewisse Weltangst, befeuert durch die Angst vor einem Atomkrieg. Das Einzige, was ich daran gut finde, ist, dass das Bewusstsein wächst, dass man sich nicht isolieren kann, um der Verantwortung zu entkommen. Das gilt auch fürs Klima.Hätten Sie es vor diesem Hintergrund richtig gefunden, wenn die FIFA gesagt hätte: In solchen Zeiten kann man keine Weltmeisterschaft durchführen?Es gibt doch den Spruch „Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus“. Man kann dem hinzufügen: Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Fußballs. Ich finde es wirklich grotesk. Aber wie hat der IOC-Präsident Avery Brundage nach dem Attentat auf die israelischen Sportler in München 1972 gesagt? „The show must go on.“Womit beschäftigen Sie sich neben dem Krieg heute?Ich bin in die ökologische Bewegung involviert. In Serbien führen wir den Kampf gegen Verschmutzung und vor allem den Lithium-Abbau. Ich freue mich, dass die ökologische Bewegung so stark geworden ist. Die Frage, die mich beschäftigt, ist, ob die globale Jagd nach Rohstoffen und Profiten mit der grünen Umweltpolitik versöhnbar ist.Wäre ein ökologischer Profifußball möglich?Wenn wir uns diese Weltmeisterschaft anschauen, oder ähnliche Ereignisse, können wir schon dystopische Züge sehen. Künstliches Klima, Hightech, perfekte Security, omnipotentes Marketing, exhibitionistisch stilisierte Fußballer und so weiter. Aber ich finde ja, dass alles möglich ist. Dafür muss sich das bisherige System allerdings grundlegend verändern. Fußball lässt sich nicht humanisieren, ohne tiefe Umwandlung der bisherigen Ordnung.Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen?Talking to My Daughter about the Economy. A Brief History of Capitalism von Yanis Varoufakis, dem ehemaligen griechischen Finanzminister.Placeholder authorbio-1
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