Sich richtig unbeliebt machen

Widerworte Ein Lob der Nestbeschmutzung – von Böll bis Wagenknecht, Palmer und Assange
Ausgabe 23/2021
Sich richtig unbeliebt machen

Illustration: Christoph Kleinstück für der Freitag

Boris Palmer ist ein Scheinriese. Von Berlin-Mitte aus wirkt er riesengroß, je näher man Tübingen kommt, desto mehr schrumpft er auf Normalmaß. Was den Oberbürgermeister (OB) zum Scheinriesen macht, ist seine so effektive wie penetrante Form der Nestbeschmutzung. Die Grünen haben kein probates Mittel gegen seine Provokationen, einem Parteiausschlussverfahren sieht er gelassen entgegen. Und sollte er tatsächlich aus seiner Partei gefeuert werden, ist ihm ein hoher Vorschuss für ein Buch sicher – denn heute enden Karrieren als Nestbeschmutzer in der einträglichen Publizistik. Das neue Buch Hans-Georg Maaßens, der als oberster Verfassungsschützer die Migrationspolitik „seiner“ Regierung kritisiert hatte, erscheint pünktlich zum Bundeswahlkampf, und auch bei Sahra Wagenknecht wächst ihre publizistische Wirkung in dem Maße, wie ihre Bedeutung in der Linkspartei schwindet, sie ist ja nur noch einfache Abgeordnete.

Es ist kein Zufall, dass Boris Palmer und Sahra Wagenknecht mit abweichenden Äußerungen zur Corona-, Migrations- und Identitätspolitik hohe aufmerksamkeitsökonomische Erträge einfahren. Denn das sind nun einmal die Triggerpunkte einer Linkspartei oder der Grünen. Wer den Grünen dagegen als Grüner eine nur halbherzige Klimapolitik oder einen Verrat an ihren basisdemokratischen Werten vorwirft, der triggert nicht. Er kritisiert. So wie Hans-Christian Ströbele neulich in der FR, mit dem Zusatz, er wolle seine Partei freilich nicht erziehen.

So einer ist kein Nestbeschmutzer, sondern ein Relikt.

Gute Tradition

Palmer hat sich übrigens nicht nur mit den Grünen angelegt. Einmal war er Redner auf der Jahrestagstagung des deutschen Beamtentums. Als OB ist er ja selbst Beamter, was ihn nicht daran hinderte, die Privilegien seines Standes anzuprangern, von der Krankenversorgung bis zu den Pensionen. Und wer sich nun dabei ertappt, zu denken: „Recht hat er!“, der braucht sich nicht zu schämen. Denn wer als Beamter die Beamten kritisiert, steht in einer guten Tradition der Nestbeschmutzung. Sie führt im Idealfall nicht (nur) zu Buchverträgen, sondern zu einer Reform der kritisierten Institution.

Diese Tradition der Nestbeschmutzung existiert noch. In unserer Ausgabe 23 legen wir Beispiele vor, die ihre Dringlichkeit belegen: von der Kritik eines Muslims an den muslimischen Verbänden über die Kritik eines Hochschuldozenten an der Vergabepolitik von Stellen und Stipendien bis zu Kritik am Institut der deutschen Familie und ihrem Schweigen über die Naziverbrechen.

Gerade mit Letzterem kehren wir zurück in eine Welt, in der eine Institution noch als Teil der Gesellschaft galt und Nestbeschmutzung ein Indikator für Gesellschaftskritik war. Schon damals gab es ein publizistisches Beschmutzerwesen. Es lag in den Händen der engagierten Schriftsteller. Man denke an Heinrich Böll oder Max Frisch.

Nachteile

Das ist vorbei. Es gibt die These, dass es die Öffentlichkeit gar nicht mehr gibt und viele Gemeinschaften an ihre Stelle getreten sind. Da ist natürlich was dran, und das erklärt dann auch, wie ein alberner Facebook-Eintrag eines OB mehr Aufmerksamkeit bekommt als die Berichterstattung über einen gleichzeitig stattfindenden Parteitag. Aber man muss sich ja nicht damit abfinden.

Denn da ist noch etwas anderes. Nestbeschmutzer, wenn sie nicht besonders gewiefte Publizisten sind, haben mit großen persönlichen Nachteilen zu rechnen. Das galt für die ersten mutigen Priester, die den Missbrauch in ihrer Kirche nicht mehr hinnehmen wollten. Es gilt für einen wie Julian Assange, der sich, hier stimmt das Wort, mit den Mächtigen dieser Welt angelegt hat.

Er sitzt immer noch im Knast und 175 weitere Jahre drohen. Er ist vielleicht kein klassischer Nestbeschmutzer. Aber die Affekte gegen einen Whistleblower sind die gleichen und gleich stark.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Michael Angele

Ressortleiter „Debatte“

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hing er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fußball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

Michael Angele

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden