Boris Palmer ist ein Scheinriese. Von Berlin-Mitte aus wirkt er riesengroß, je näher man Tübingen kommt, desto mehr schrumpft er auf Normalmaß. Was den Oberbürgermeister (OB) zum Scheinriesen macht, ist seine so effektive wie penetrante Form der Nestbeschmutzung. Die Grünen haben kein probates Mittel gegen seine Provokationen, einem Parteiausschlussverfahren sieht er gelassen entgegen. Und sollte er tatsächlich aus seiner Partei gefeuert werden, ist ihm ein hoher Vorschuss für ein Buch sicher – denn heute enden Karrieren als Nestbeschmutzer in der einträglichen Publizistik. Das neue Buch Hans-Georg Maaßens, der als oberster Verfassungsschützer die Migrationspolitik „seiner“ Regierung kritisiert hatte, erscheint pünktlich zum Bundeswahlkampf, und auch bei Sahra Wagenknecht wächst ihre publizistische Wirkung in dem Maße, wie ihre Bedeutung in der Linkspartei schwindet, sie ist ja nur noch einfache Abgeordnete.
Es ist kein Zufall, dass Boris Palmer und Sahra Wagenknecht mit abweichenden Äußerungen zur Corona-, Migrations- und Identitätspolitik hohe aufmerksamkeitsökonomische Erträge einfahren. Denn das sind nun einmal die Triggerpunkte einer Linkspartei oder der Grünen. Wer den Grünen dagegen als Grüner eine nur halbherzige Klimapolitik oder einen Verrat an ihren basisdemokratischen Werten vorwirft, der triggert nicht. Er kritisiert. So wie Hans-Christian Ströbele neulich in der FR, mit dem Zusatz, er wolle seine Partei freilich nicht erziehen.
So einer ist kein Nestbeschmutzer, sondern ein Relikt.
Gute Tradition
Palmer hat sich übrigens nicht nur mit den Grünen angelegt. Einmal war er Redner auf der Jahrestagstagung des deutschen Beamtentums. Als OB ist er ja selbst Beamter, was ihn nicht daran hinderte, die Privilegien seines Standes anzuprangern, von der Krankenversorgung bis zu den Pensionen. Und wer sich nun dabei ertappt, zu denken: „Recht hat er!“, der braucht sich nicht zu schämen. Denn wer als Beamter die Beamten kritisiert, steht in einer guten Tradition der Nestbeschmutzung. Sie führt im Idealfall nicht (nur) zu Buchverträgen, sondern zu einer Reform der kritisierten Institution.
Diese Tradition der Nestbeschmutzung existiert noch. In unserer Ausgabe 23 legen wir Beispiele vor, die ihre Dringlichkeit belegen: von der Kritik eines Muslims an den muslimischen Verbänden über die Kritik eines Hochschuldozenten an der Vergabepolitik von Stellen und Stipendien bis zu Kritik am Institut der deutschen Familie und ihrem Schweigen über die Naziverbrechen.
Gerade mit Letzterem kehren wir zurück in eine Welt, in der eine Institution noch als Teil der Gesellschaft galt und Nestbeschmutzung ein Indikator für Gesellschaftskritik war. Schon damals gab es ein publizistisches Beschmutzerwesen. Es lag in den Händen der engagierten Schriftsteller. Man denke an Heinrich Böll oder Max Frisch.
Nachteile
Das ist vorbei. Es gibt die These, dass es die Öffentlichkeit gar nicht mehr gibt und viele Gemeinschaften an ihre Stelle getreten sind. Da ist natürlich was dran, und das erklärt dann auch, wie ein alberner Facebook-Eintrag eines OB mehr Aufmerksamkeit bekommt als die Berichterstattung über einen gleichzeitig stattfindenden Parteitag. Aber man muss sich ja nicht damit abfinden.
Denn da ist noch etwas anderes. Nestbeschmutzer, wenn sie nicht besonders gewiefte Publizisten sind, haben mit großen persönlichen Nachteilen zu rechnen. Das galt für die ersten mutigen Priester, die den Missbrauch in ihrer Kirche nicht mehr hinnehmen wollten. Es gilt für einen wie Julian Assange, der sich, hier stimmt das Wort, mit den Mächtigen dieser Welt angelegt hat.
Er sitzt immer noch im Knast und 175 weitere Jahre drohen. Er ist vielleicht kein klassischer Nestbeschmutzer. Aber die Affekte gegen einen Whistleblower sind die gleichen und gleich stark.
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