Skandalöse Rezensionspraktiken im Fall Christa Wolf

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Der neue Roman von Christa Wolf Stadt der Engel wird ab kommenden Montag, dem 21. Juni, in den Läden zu kaufen sein; bis dahin ist es untersagt, dieses Buch zu rezensieren. Der Suhrkamp Verlag hat eigens noch einmal in einer E-Mail auf diese Sperrfrist hingewiesen. Auch dem Freitag wurde sie klar und deutlich mitgeteilt. Folgerichtig haben wir eine Rezension für die Ausgabe nach der Frist bestellt.

Schön dumm schaute ich deshalb aus der Wäsche, als ich gestern das Feuilleton der FAS aufschlug: eine ganzseitige Rezension von Volker Weidermann zu Stadt der Engel. Sauber, dieser Gauner, schoss es mir durch den Kopf. Aber er war nicht der einzige. Später im Café fand ich eine Besprechung des Buches in der Welt am Sonntag von Uwe Wittstock, und am Montag früh konnte man im Tagesspiegel eine große Besprechung von Oliver Pfohlmann entdecken, unter dem schönen Titel „Wie konnte ich das vergessen“. Ja, wie konnte man nur. Schon am Samstag war Arno Widmann in der FR besprechend aktiv geworden.

Fast scheint es, als habe man sich zur Untat verabredet. Beim Suhrkamp Verlag ist man natürlich sauer, kann sich diese Verschwörung allerdings auch nicht erklären. Vielleicht seien die Redaktionen durch die Vorankündigung eines Spiegel-Interviews mit Christa Wolf aufgescheut worden, heißt es auf Nachfrage. Heimliche Absprachen irgendwelcher Art mit dem Verlag habe es auf jeden Fall nicht gegeben. Dass der Spiegel mit der Ostberliner Autorin ein Interview geführt hat, erinnert dabei noch an subtilere Arten, eine Sperrfrist außer Kraft zu setzen: Ein Interview ist ja schließlich keine Buchrezension.

Mit diesem Argument hatte sich der Spiegel 2009 erfolgreich gegen den Rowohlt-Verlag durchgesetzt, der gegen die Missachtung ihrer Sperrfrist zum neuen Roman von Daniel Kehlmann geklagt hatte. Auf Anraten des Hamburger Landgerichts einigte man sich schließlich gütlich. Interview, Porträt: Solche Schleichwege in der Umgehung der Sperrfrist scheinen gar nicht mehr nötig. Laut Suhrkamp Verlag hat man auch in den eindeutigen Fällen einer Rezension keine Aussicht auf Erfolg einer Klage. „Man kann die Leute nur bitten“. Bestimmt will man es sich mit dem Feuilleton auch nicht übermässig verscherzen.

Wer nun denkt, so ist sie halt die Branche, was soll‘s, der Verfasser dieses Kommentars ist doch nur sauer, dass er nun dumm dasteht, dem sei gesagt: Ja, er ist sauer, dass der Freitag nun als einer der letzten in der Reihe dasteht. Ja, er findet das unkollegial. Aber die eigene Eitelkeit einmal beiseite geschoben, ist es natürlich auch ein Betrug am Leser, denn der kann das besprochene Buch ja noch gar nicht kaufen – wie schmerzlich, wenn ihn die Rezension im Guten oder im Schlechten so neugierig gemacht hat, dass er es sofort verschlingen will. Genau bedacht, liegt darin sogar der eigentliche Frevel von Wittstock, Widmann, Weidermann, und Co. Eine leichte Schuld muss übrigens auch den Kollegen von der Süddeutschen Zeitung und FAZ attestiert werden. Beide Blätter wollen Stadt der Engel trotz der neuen Lage nicht früher als geplant, aber doch schon am nächsten Samstag, dem 19. Juni, besprechen. Auch das respektiert genau genommen die Sperrfirst nicht. Aber immerhin liegt das Buch aller Erfahrung nach dann schon in den Läden.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Angele

Ressortleiter „Debatte“

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hing er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fußball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

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