Sozialisierte Raserei

Attentat 1968 gipfelte die Erregung der Gesellschaft in Schüssen auf Rudi Dutschke. Heute bleibt physische Gewalt in dieser Form oft aus – weil wir viel mehr Medien haben?
Rudi Dutschke schrieb Briefe an seinen Attentäter und versuchte, ihn vom Sozialismus zu überzeugen
Rudi Dutschke schrieb Briefe an seinen Attentäter und versuchte, ihn vom Sozialismus zu überzeugen

Foto: Zuma/Keystone/Imago

Heute vor fünfzig Jahren wurde auf Rudi Dutschke geschossen. Dutschke wurde lebensgefährlich an Kopf und Schulter getroffen. Die Schüsse auf dem Berliner Kurfüstendamm gab Josef Bachmann ab, ein 23-Jähriger Hilfsarbeiter, der, wie es heißt, durch NPD-und Springer-Presse, namentlich Bild und B.Z., aufgeputscht wurde.

„Stoppt den Terror der Jung-Roten!" "Polit-Gammler Dutschke dreht an einem dollen Ding!“

So lauteten die Schlagzeilen damals. Man kann das heute bequem nachlesen im „Medienarchiv 68“, das der Springerkonzern dankenswerterweise vor ein paar Jahren eingerichtet hat, um eine öffentliche Diskussion über seine damalige Rolle in Gang zu bringen.

Die Springer-Presse machte also Stimmung und fuhr Kampagnen gegen die Studentenbewegung. Dem widerspricht auch nicht, dass die Bild-Zeitung zwei Tage nach dem Attentat titelte: „Millionen bangen mit“ und schrieb:

"Politische Gegnerschaft wird überdeckt von der Anteilnahme am menschlichen Schicksal. Was Dutschke mit Reden und Taten nicht erreichen vermochte, das scheint unmittelbar nach dem Attentat zu geschehen: Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, die Dutschke bisher so ablehnend gegenüberstand, fühlt mit ihm. Aber nur für kurze Zeit.“

Denn sehr schnell habe sich gezeigt, dass die Studenten als „einzige Antwort auf das Attentat nur Gewalt wussten, als sie den Mordanschlag eines Rechtsradikalen mit Brandstiftungen und Steinwürfen beantworteten“.

Teil der Gewalt

Was die Bild-Zeitung unterschlug: Die Gewalt richtete sich gegen Springer. Es wäre absurd zu behaupten, dass Bachmann geschossen hat, weil er diesen oder jenen Artikel gelesen hat. Aber er hat in einer Stimmung auf den Studentenführer geschossen, die durch Springer angeheizt wurde. Das war offensichtlich und es machte die Studenten masslos wütend (symbolisch stand Springer für den autoritären, ungerechten Vater). „Der Hauptschuldige sitzt in der Kochstraße“ lautete die von Bernd Rabehl (heute ein Rechter) herausgegebene Losung nach dem Attentat , die der bekannten Losung „Enteignet Springer“ beigefügt wurde.

Der Springer-Konzern aber konnte sich, wenn schon nicht als Ursache, so noch nicht einmal als Teil der Gewalt beschreiben. Oder, wie man heute sagen würde, als Akteur in der Erregungsgesellschaft. Rudi Dutschke wiederum überlebte das Attentat, jedoch schwer gezeichnet. Und er tat etwas, was der Logik der Feindschaft widersprach. Er schrieb Briefe an seinen Attentäter und versuchte, ihn vom Sozialismus zu überzeugen (vergeblich, Bachmann nahm sich 1970 das Leben).

Heute befinden wir uns immer noch – oder wieder – in einer solchen Erregungsgesellschaft. Ja, es scheint, als befänden wir uns in einer Gesellschaft, die so stark erregt ist, wie keine vor ihr. Es wird gehetzt und denunziert, empört und exorziert, dass sich die Balken biegen, und sich über die Empörung und Hetze empört, was wiederum andere in ihrer eigenen Empörung empört. Aber es wird – nicht geschossen. Die Buchmesse Leipzig fand kein blutiges Ende. Ein Jens Jessen sitzt meines Wissens wohlbehalten in der Zeit-Redaktion, und eine Frau Stokowski fährt zwar lieber mit den Taxi durch die Stadt, wie man ihrer neuen Kolumne entnehmen kann, aber der Grund dürfte nicht darin liegen, dass sie die U-Bahn für zu gefährlich hält.

Wie Alkoholiker

Könnte es also sein, dass die kollektive Erregung heute andere, vielleicht gar nicht so dramatisch schlimme Verlaufsformen und Folgen zeigt? Könnte es sein, dass Foren, Twitter und all das Zeugs, zwar jede Menge verbale Gewalt erzeugen (und das ist schlimm genug), aber gerade auch physische Gewalt verhindern? So wie manche Theoretiker der Videospiele auch sagen, dass Ego-Shooting den einzelnen Amoklauf zwar nicht verhindert, aber aus der Masse der Ego-Shooter gerade keine massenhaften Gewalttäter hervorgehen? Weil man sich sozusagen auf einem konstanten und hinreichend hohen Erregungsslevel bewegen kann? Oder noch ein anderer Vergleich: Bewegen wir uns in der Erregungsgesellschaft wie Alkoholiker beim kontrollierten Trinken?

Ich frage und weiß es wirklich nicht. Aber käme man zur Antwort, dass es sich so verhalten könnte, wäre das auch eine stark ernüchternde Lehre aus der 68er Zeit. Enteignet Springer meint ja eigentlich nur: Sozialisiert die Erregung.

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Geschrieben von

Michael Angele

Ressortleiter „Debatte“

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hing er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fußball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

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