Späteströmische Dekadenz

Hegelplatz 1 Glaubwürdigkeitskrise der Medien? Beim Bundespresseball macht man sich keine Sorgen
Ausgabe 36/2019
Keine Spur von Medienkrise, es überwiegt der Glanz
Keine Spur von Medienkrise, es überwiegt der Glanz

Foto: Imago Images/Sven Simon

VORBEMERKUNG FÜR DEN LESER UND DIE LESERIN:

Der Text, den Sie hier lesen wollen, habe ich für die gedruckte Zeitung geschrieben. Es ist eine Glosse, eine Format, das zur Geschichte der Zeitung fest gehört, ein berühmtes Beispiel ist das "Streiflicht" in der "Süddeutschen Zeitung". Vom "Streiflicht" erwarten die Leser keinen sachlichen Text, sondern gute, gewitzte Unterhaltung, samt Ironie, doppeltem Boden etc. Meine Erfahrung ist leider, dass Glossen online nicht so gut funktionieren. Man erwartet einen Sachtext und ist dann enttäuscht über "Geschwurbel". Dieser Text hier ist kein Sachtext über den Bundespresseball. Er ist "Geschwurbel". Oder wenn sie es etwas nobler wollen: Er dreht auf einer Glatze eine Locke. Wenn Sie ihn nun trotzdem lesen wollen, bitteschön.

Ihr Michael Angele

Der Untergang einer Gesellschaft zeichnet sich ab, wenn die in ihr waltende Herrschaftsform dysfunktional wird, siehe Friedrich Dürrenmatt, Romulus der Große. Dieser letzte römische Kaiser lebt lieber auf seinem Landsitz und züchtet Hühner, als die Germanen aufzuhalten. Die Hühnerzucht ist ein komisches Element, kein tragisches, das ins Läppische gesteigert wird: Als der Anführer der Germanen bei Romulus erscheint, sprechen sie über Hühnerzucht und Hosen.

Damit in die Gegenwart. In Dürrenmatts Heimat sendet der Untergang ebenfalls deutliche Vorzeichen aus. Es läuft nicht mehr mit den SBB, den Schweizerischen Bundesbahnen. Das ist eine ernste Sache. Ich bin früher sehr oft mit den SBB gefahren, aber ich kann mich nicht an Probleme erinnern, vielleicht war mal was im Cisalpino, aber der gehörte zur Hälfte den Italienern, wenn Sie verstehen, was ich meine. Und jetzt das: „Auch die Anzeigetafeln in den SBB funktionieren nicht mehr. Missmanagement und migrationsbedingte Überlastung richten unsere einst ruhmreichen Bundesbahnen zugrunde“, twitterte der SVP-Nationalrat und Weltwoche-Herausgeber Roger Köppel. Nun rätseln seine Landsleute, welchen dunklen Zusammenhang es zwischen dem Ausfallen der Anzeigetafeln und der Migration geben könnte. Sie rätseln natürlich zum Spaß, denn sie haben erkannt, dass dieser Tweet „gaga“ (Blick) ist. Aber gaga ist eben nicht einfach nur gaga, sondern der Anfang vom Ende, das ist vielleicht nicht allen so klar.

Denn natürlich stellt man sich das nahe Ende eher glamourös vor, Stichwort „spätrömische Dekadenz“, womit der Stichwortgeber Guido Westerwelle damals komischerweise Hartz-IV-Bezieher meinte – und nicht die Auswüchse der Berliner Republik. Heute bekam ich Post von der Bundespressekonferenz. Man bitte mich zum Bundespresseball, allerdings nicht für lau, sondern für wahlweise 360,00 Euro Flanierkarte oder 660,00 Euro Sitzplatz/Dinner pro Person. Außerdem bietet man mir für läppische 240,80 Euro ein Deluxe-Zimmer im Hotel Adlon Kempinski im Anschluss an die rauschende Ballnacht an. „U. A. w. g.“ Das alleine würde ich nun noch nicht als „spätrömische Dekadenz“ bezeichnen. Auch nicht Glanz, das überkandidelte Hochglanzmagazin, das mir diesen Bundespresseball schmackhaft machen soll. Nein, „gaga“ wird es erst dort, wo mir Vizekanzler a. D. Sigmar Gabriel in Glanz allen Ernstes erklärt, es ginge bei diesem Presseball nicht um Sehen und Gesehenwerden, um eine Selbstfeier der Branche, sondern darum, „Demokratie und Pressefreiheit zu feiern“. Über Sigmar Gabriels Beitrag prangt groß ein Zitat aus Sigmar Gabriels Beitrag: „Vielerorts ist das Vertrauen in Politik und Medien dramatisch gesunken.“ Die Lage ist wirklich ernst.

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Geschrieben von

Michael Angele

Ressortleiter „Debatte“

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hing er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fußball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

Michael Angele

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