So, jetzt schalten wir aber das Radio aus, das im Hintergrund läuft und abermals über Covid-Maßnahmen berichtet, gerade geht es um den Glühweinverkauf. So ziemlich das Gegenteil von Glühweinverkauf ist dieses Buch. Das Berlin, durch das der Schriftsteller David Wagner in Nachtwach Berlin geht, wobei er von dem Fotografen Ingo van Aaren und einer Schildkröte begleitet wird, ist menschenleer. Was wir sehen, ist schlicht dies: „Nachts sehen wir, wie schön die Stadt ist.“ Der Schriftsteller ist im Dialog mit seiner „Kröti“. Das ist eine Reminiszenz an die Flaneure im Paris des 19. Jahrhunderts, damals war es schick, mit einer Schildkröte durch die Stadt zu schweifen. Man muss sie aber nicht verstehen. Verstehen muss man nur, dass so das Berlin des Lockdowns im Jahr 2020 aussieht. Aber das versteht sich von selbst. Und verstehen wird man, was der Lockdown zum Vorschein bringen kann.
Es sind so viele wahre, durch die Fotos beglaubigte Sätze in diesem Buch: dass Hanns Zischler recht hat, wenn er sagt, dass Berlin zu groß ist für Berlin, dass die Straßenlaternen in Berlin so fahl sind, dass sie eher der Verdunkelung dienen, dass das ICC zauberhaft und der neue Hauptbahnhof schrecklich ist, man sich aber damit trösten kann, dass Bahnhöfe in Berlin nie lange stehen, der Lehrter Stadtbahnhof, der Potsdamer Bahnhof ... A propos: „Ich möchte den Potsdamer Platz gar nicht finden“ ist auch so eine Reminiszenz, an Der Himmel über Berlin. Nun würdigt Wim Wenders’ Film ja die Mauerstadt. Der nächtliche Spaziergang in diesem Buch führt vom alten Westberlin in den Osten, aber da ist doch ein Unterschied! Der Westen ist „schön“, dem ehemaligen Ostberlin wurde der Zauber genommen. Der Alexanderplatz in der Nacht: einfach nur leer. Täusche ich mich? Vielleicht sollte ich mit „Kröti“ sprechen.
Das ist das Buch, nicht der Stunde, aber des nächsten langen Abends zu Hause. Jetzt wieder das Radio einschalten, wo Jens Spahn sagt, dass die Maßnahmen nach Weihnachten härter werden könnten.
Info
Nachtwach Berlin David Wagner, Ingo van Aaren Distanz 2020, 160 S., 32 €
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