(Anmerkung: umgefallener Turm. Der Richtige ist in der Printausgabe zu sehen)
Foto: der Freitag
Nur ein paar Tage im Urlaub gewesen und bei der Rückkehr schon einen großen Stapel Bücher vorgefunden. Die Verlage feuern, als gäb’s kein Morgen (gibt es ja vielleicht auch nicht), und bedenken nicht, was sie in einer Redaktionsstube anrichten. Andererseits: Der Satz „Wer, um Himmels willen, soll das alles lesen?“ ähnelt gewissen Klagen über das Wetter, die man am besten mit einem „Es gibt kein schlechtes Wetter, nur falsche Kleidung“ abwehrt. Es ist ja egal, wie hoch der Stapel noch wird; man kann sowieso nicht alles lesen, muss auswählen, aussortieren können, um sich dann nach gut begründeter Wahl in das eine Werk zu vertiefen, das hier nicht F heißen wird. Kollegin Hensel hat den neuesten Roman von Daniel Ke
Roman von Daniel Kehlmann schon besprochen, und es ist schon so, dass eine nahrhafte Rezension in vielen Fällen die Lektüre erspart – das vielleicht als Antwort auf den Verlagsseufzer, dass positive Rezensionen in den Feuilletons ja doch nichts bewirken (im Gegensatz zu früher, als alles besser war). Doch! Aber eben anders, als es die Verlage gerne hätten. Die Besprechung eines Buchs ersetzt dessen Kauf.Über Daniel Kehlmann und wie der damals bei der Vermessung der Welt mit seinem irren Erfolg umging, hat Thomas Glavinic einmal sehr witzig geschrieben. Ich habe einige amüsante Sachen von Glavinic gelesen. Aber das neue Buch Das größere Wunder (Hanser Verlag) scheint in eine andere Richtung zu gehen. John Burnside nennt Glavinic auf dem Klappentext einen „radikalen Chronisten der menschlichen Existenz, ein würdiger Nachfolger von Patricia Highsmith und Franz Kafka.“ Mal abgesehen davon, dass Kafka ein großer Humorist war: Dieser Blurb erleichtert die Wahl, Existenzialismus ist es nicht, was ich in einem Glavinic-Roman suche.Soll ich stattdessen zu Olaf Kühl greifen? Sein Roman Der wahre Sohn (Rowohlt Berlin) ist für den Deutschen Buchpreis nominiert. Das erleichtert das Geschäft: Gewinnt er, wird er gelesen. Oder wenigstens sämtliche Rezensionen zu diesem Buch.Zuunterst auf dem Stapel liegt groß und schwer Robert K. (Belleville). Norbert Kückelmann, der Autor, wurde 1930 geboren und war oder ist Rechtsanwalt und Filmemacher. Eine gute, aber auch anspruchsvolle Mischung, siehe Alexander Kluge, mit dem Kückelmann vor langer Zeit das Forum junger Film gründete. Genauer heißt sein Roman Robert K. oder die fünfte Gewalt. Wenn ich die dunklen Andeutungen richtig verstehe, ist dieser K. ein bestialischer Juristenmörder. K. (!), die fünfte Gewalt: Das ist mir zu dunkelmunkel, warte lieber, bis Ferdinand von Schirach das Romaneschreiben wieder aufgibt (nächste Woche erscheint seine neuer Roman Tabu) und zu seinen meisterhaften Storys zurückkehrt.MeienbergÜberhaupt, es muss ja kein Roman sein. Neulich wurde eine vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels initiierte Studie veröffentlicht, die gravierende „geschlechtsspezifische Unterschiede“ beim Bücherlesen belegt. Frauen legen mehr „Wert auf Unterhaltung“, Männer wollen „vornehmlich Sachinformationen“ und einen Nutzen von der Lektüre haben. Ich persönlich hebe diese schmerzhafte Geschlechterdifferenz dadurch auf, dass ich Reportagebände lese.Gelungene Reportagen sind informativ und spannend, also männlich und weiblich. Auf dem Stapel liegt ein Buch des verstorbenen Schweizer Reporters Niklaus Meienberg. Ich habe seine Reportagen verschlungen. In öffentlichen Auftritten zeigte Meienberg ein eher südländisches Temperament, wenn man so sagen darf, aufbrausend, verletzlich, sinnlich, dabei ein scharfsinniger Historiker und radikaler Aufklärer, immer auf der Seite derer, denen das Leben nicht so gut mitgespielt hat. Und ausgerechnet er wurde dann von zwei Nordafrikanern auf einer S-Bahnstation in der Zürcher Agglomeration übel zusammengeschlagen. Es heißt, er habe sich davon nie erholt. Vor 20 Jahren nahm er sich das Leben. In der Schweiz wird ihm nun in Zeitungsartikeln gedacht und auch mit einem Buch, das hier auf dem Stapel liegt. Es ist kalt in Brandenburg: Ein Hitler-Attentat (Limmat Verlag). In meiner Erinnerung war das primär ein Film. Er rekonstruierte den Fall eines Studenten aus Neuenburg, der ins ferne Berlin fuhr, um den deutschen Diktator zu töten. Der Student flog auf und wurde, von Gott, der Welt und dem Gesandten Fröhlicher verlassen, hingerichtet. Das Buch zum Film wurde 1980 das erste Mal veröffentlicht, aber was ist das für ein Buch? „Das ist kein Materialbuch, kein Buch übers Filmen, auch keine Dokumentation eines Attentats“, schrieb, laut Klappentext, damals die Süddeutsche Zeitung. Glasklar und glitschigIch lege es mal zur Seite und lege gleich noch Die linke Hand des Papstes drauf, ein neuer schmaler Band von Friedrich Christian Delius (Rowohlt). FC Delius, der Mann, der über den „Helden und sein Wetter“ promoviert hatte. Klang cool. Solche Arbeiten wollten wir auch schreiben. Ich habe mir dann die Dissertation besorgt, deren These lautet, dass das Wetter eine ideologische Funktion im realistischen Roman hat, gesellschaftliche Verhältnisse naturalisiert, Stimmung verbreitet, statt Kritik zu leisten, aus der fortschrittlichen Literatur verbannt werden muss. Später hat sich Delius korrigiert und in seiner bekanntesten Erzählung Der Sonntag, als ich Weltmeister wurde dem Fritz-Walter-Wetter die Bedeutung zugesprochen, die es verdient. Ich mag die leise Ironie dieses Autors, und auch wenn ich den Einstieg in das neue Buch ein wenig prätentiös finde („Die Hand, dachte ich am ersten März-Sonntag des Jahres 2011 – was ist mit der Hand“ – so denkt kein Mensch, weder sonntags noch werktags), erwarte ich von einem Papst- und Rom-Buch des Italienkenners Delius die Entfachung des Wunsches, sofort nach Rom zu fahren (Nutzwert eines Buchs!).Bringt mich zum Italienreisenden Goethe. Nun hat der Großbiograph Rüdiger Safranski also über den Größten eine Biographie geschrieben, Goethe – Kunstwerk des Lebens. Eine Biographie (Hanser). Zu früh? Man fragt sich, was noch kommen soll. Rüdiger Safranski: Gott. Eine Biographie, nein zu billig, Mohammed oder überraschender: Stephen King. Wahrscheinlich aber doch eine Frau, nach all den Männern, also Hannah Arendt.AußerirdischEs liegen leider auch fast nur Bücher von Männern auf dem Stapel. Georg Klein hatte 1999 mit Libidissi einen bezaubernden und positiv-befremdlichen Roman geschrieben, einen vielschichtigen Agenten-Thriller, der vor allem für Literatur-Literaturleser die helle Freude war. Sein Stil wurde als die Quersumme aus Kafka und Grisham beschrieben, seine Sprache war glasklar und glitschig zugleich, trivial und hochliterarisch. Seither schreibt Klein immer weiter, manchmal klinkt man sich ein, dann wieder aus, jetzt liegt Die Zukunft des Mars auf dem Tisch (Rowohlt). Literatur von einem anderen Planeten: Kleins Roman wurde neulich in einem brillanten Essay in der NZZ kurz erwähnt. Der Literaturwissenschaftler Philipp Theisohn ging darin der Frage nach, welche Kenntnisse Außerirdische von unserer Literatur haben.Das möchte man deshalb wissen, weil sich ein Autor letzten Endes an eine extraterritoriale Instanz richtet: „Seit der Entdeckung des Planetensystems verfolgt uns das Phantasma des außerirdischen Lesers, vor dessen Kritik nicht nur das, was wir schreiben, sondern auch das, was wir tun und sind, Bestand haben soll.“ Aber natürlich gibt es Außerirdische auch unter uns. Wiglaf Droste zum Beispiel, der mit seinen weit auseinanderstehenden Augen doch recht marsianisch anmutet, ein Held aus den achtziger Jahren. Er war einer der Autoren, die ihre schlechte Laune so gut in Glossen gossen, dass einem die Schlechtigkeit der Welt bewusst wurde. Irgendwann einmal wurde einem aber nur noch die schlechte Laune von Droste bewusst. Nun gibt es eine neue Sammlung von Sprachglossen: Die Würde des Menschen ist ein Konjunktiv (edition tiamat). Rasch das Buch aus seiner Schutzfolie befreit und die erste Glosse gelesen. Droste mokiert sich über To-do-Listen und No-gos und Coffee to go. Kritik am Anglizismus, nicht gerade originell und verblüffend bieder geschrieben. Vermisse den alten Biss. Leg’s auf den Stapel mit den Büchern fürs Klo.Ein anderer Held der achtziger Jahre, Henryk M. Broder, hat eine Polemik gegen die Idee des Vereinigten Europa geschrieben. Die letzten Tage Europas (Knaus). Wer diesen Autor kennt: Anspielungsreiche Titel sind sein Markenzeichen. Hier wird auf Karl Kraus angespielt, erinnerlich sind Die Irren von Zion und die Kritik der reinen Toleranz. Ein weiteres Markenzeichen ist eben die Polemik, bei der die Verlage fürchten, dass sie den Leser verschrecken können. Sie versuchen es deshalb mit Humor: „Dieses Buch sollten Sie keinesfalls am Stück lesen. Die Lektüre könnte sonst Ihre Gesundheit gefährden“. Ich lese solche Bücher nie am Stück. Vermutlich liest sie niemand am Stück. Und natürlich sind sie auch nicht gesundheitsschädigend. Ich stelle das Buch ins Regal neben Enzensbergers Traktat gegen die Brüsseler Bürokraten, das freilich so dünn war, dass ich es doch am Stück gelesen habe.Der Vollständigkeit halber hier die weiteren Bücher des Stapels: Tretet zurück von Regina Maira Jankowitsch (Überreuter-Verlag), ein Büchlein über die fehlende Kunst des Rücktritts von Politikern, sowieAdam Hochschilds Der große Krieg, Moshé Machovers Israelis und Palästinenser und last but not least der Gedichtband weiß von Peggy Neidel, die auch für den Freitag rezensiert. „Hier kommt nichts nach / Hier wird nichts geliefert.“ Und ausgewählt wird später.
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