Folgt man den Leitartiklern in diesen Tagen, dann müssen sich „die Eliten“ warm anziehen. Umgekehrt werden sich Hartzer und andere Abgehängte kaum noch vor all den Journalisten schützen können, die diesen fremden, aber nun einmal mit den vollen politischen Rechten ausgestatteten Teil der Bevölkerung kennenlernen wollen. Bevor ich mich selbst als Reporter-Ethnologe ins Feld wage, möchte ich mich standesgemäß annähern: durch Lektüre.
Von 1997 bis 2015 erschien im Berliner Stadtmagazin Zitty der Comic didi & stulle. Gezeichnet wurde er von dem heute 50-jährigen Fil, von dem man weiß, dass er ein Punk war und im Märkischen Viertel aufwuchs. Das Märkische Viertel ist eine Trabantensiedlung im Norden Berlins, vergleichbar mit der Gropiusstadt, wenn auch nicht so legendär. Immerhin hat es mit dem Rapper Sido, dem Fußballer Benjamin Köhler oder eben Dieter Kolenda und Andreas Stullkowski, genannt Didi und Stulle, ein paar Namen hervorgebracht. Dazu ein paar Daten von 2009: Einwohnerzahl 40.000, Arbeitslosenquote mit 12,9 Prozent fast im Berliner Durchschnitt. Weit über Durchschnitt dagegen die Zahlen für ALG2-Empfänger, 64 Prozent Existenzsicherungsempfänger unter 15 Jahren, 50,1 Prozent Kinder mit Migrationshintergrund.
Identitätspolitik
Die Frage ist, wo Didi und Stulle in dieser Statistik einzuordnen sind. Klar, einen Migrationshintergrund scheinen sie nur mittelbar zu haben, der Name Stullkowski deutet auf polnische Einwanderung in einer früheren Generation hin. Aber wie bestreiten sie ihren Lebensunterhalt? Nach Sichtung der neuen dreibändigen Gesamtausgabe von didi & stulle, war es mir immer noch nicht klar. Stulle wohnt bei der Mutter, die ihn vermutlich alimentiert, und er hat offenbar sogar Abi, jedenfalls studiert er kurz und ist dem Ressentiment seines Freundes ausgesetzt. Dieser treibt sich meistens herum, aber hat er nicht wenigstens zwischendurch mal einen Job? Ich schreibe eine Mail an seinen Schöpfer. Fil Tägerts Antwort ist schnörkellos: „Beide harzen.“
Und was sind das nun für zwei? Sympathisch sind sie nicht direkt. Sie sind auch nicht schön, jedenfalls nicht für mein Auge, denn sie ähneln Schweinen, Didi einem Warzenschwein. Allerdings scheint Stulle auf manche Frauen attraktiv zu wirken. Einmal wird er in einer Kneipe von zwei Pardon, scharfen Fegern mit Leonardo Di-Caprio verglichen.
Das rührt, der kleine, fragile Stulle weckt meine väterlichen Instinkte. Die hat letztlich auch Freund Didi, für den gilt: harte Schale, weicher Kern. Auf der Freundschaft zwischen den beiden liegt freilich ein Schatten, der es dem Journalisten nicht leicht macht. Es ist der lange Schatten der Homophobie. Das einzige Leitmotiv durch 18 Jahre Didi und Stulle bildet der „Vorwurf“ oder „Verdacht“ von Didi, Stulle sei eigentlich homosexuell.
Welterklärungskompetenz
Dieser Verdacht wird immer wieder und in allen erdenkbaren sprachlichen Wendungen an den Freund herangetragen, der ihn – natürlich – barsch zurückweist. Es ist hart: Während all der Jahre lernen wir Didi unter anderem als Gott kennen und Stulle als Klon seiner selbst, wir sehen die beiden als Marsreisende, ja sie werden als Pilz und Elfe wiedergeboren, aber all diese extremen Erfahrungen fallen den beiden offenbar leichter, als den Gedanken anzunehmen, dass der Freund schwul sein könnte.
Extreme Utopien, oder sagen wir Veränderungswünsche paaren sich mit kleingeistigen Annahmen über das, was man Identität nennt. Damit zur Identitätspolitik, von der es in diesen Tagen heißt, sie dürfe nicht gegen die soziale Frage ausgespielt werden. Nach Judith Butler kommt beides zusammen in ihrem Begriff des Prekariats. In ihrem neuen Buch mit dem aufwühlenden Titel Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung schreibt sie: „Prekarität ist die Rubrik, die Frauen, Queers, Trans-Personen, Arme, anders Begabte, Staatenlose, aber auch religiöse und ethnische Minderheiten unter sich vereinigt.“
Didi und Stulle haben keinen Eintrag in diesem Register. Dabei sind sie doch auch wer! Und man kann sogar von ihnen lernen. Didi ist nämlich sehr gut im Welterklären. Natürlich trägt er seine Erklärungen meist aggressiv und besserwisserisch vor, aber sie sind oft nicht verkehrt. Und selbst dort, wo sie verkehrt sind, sind sie nie ganz falsch. Deutlich wird das in der Episode Didi und Stulle in Hamburg. In Hamburg angekommen, fallen Stulle die Nummernschilder auf: „Krass wa, wie viel Faschos hier mit ‚Heil Hitler‘-Autokennzeichen rumlaufen.“ (Habe ich schon erwähnt, dass die beiden stark berlinern?) Didi klärt ihn auf: „Wir sind hier inna ehemaligen DDR. Faschismus ist ihre Art, uns zu sagen: Hallo? Wir sind auch noch da.“ Der Hinweis, dass Hamburg früher DDR war, wird auch nicht durch den Fakt richtiger, dass „Merkel doch von hier kommt“, aber Didi erweist sich als Pegida-Versteher avant la lettre, der Comic erschien in den 2000er Jahren.
Falscher Hipster-Verdacht
Auf die Frage, ob Didi heute nicht selbst ein Wutbürger wäre, der sich Pediga oder der AfD anschlösse, kann man sagen: Selbst wenn er es täte, dann nur kurz und im Wissen um die sozialpsychologischen Motive der Bewegung. Aber leider bringt ihn sein reflexives Wissen nicht weiter, Didi und Stulle steigen nicht auf, sondern eher aus. Viele Geschichten ähneln LSD-Trips, obwohl meines Wissens Drogen nicht explizit vorkommen. Diese Abenteuer werden äußerst fantasievoll bestanden, und damit ist nicht unbedingt Didis Fähigkeit gemeint, das Telefonbuch als Wichsvorlage zu verwenden (siehe Endstation Mars).
Wenn Didi und Stulle schon nicht die Möglichkeit haben, in der Gesellschaft aufzusteigen, so haben sie doch die magische Kraft, sich die Umwelt anzuverwandeln. Wenn wir schon nicht zu den „Eliten“ gehören, dann holen wir sie halt zu uns runter, scheint ihr Credo (das einem gerade bekannt vorkommt ...). Deutlich wird das im Band Im Auftrag der Kanzlerin. Dort wird Angela Merkel ins Märkische Viertel zitiert, an der „Statue des namenlosen Proleten“ warten gelassen, und dann so ins Leben im Viertel initiiert, dass sie sich innerlich und äußerlich in eine „Proletin“ verwandelt.
Das mag dem linken Auge schmeicheln, aber es bleiben natürlich Phantasmagorien aus den Köpfen von „weißen, heterosexuellen Männern“. Jedenfalls bei Didi, der in seiner Heterosexualität so tief fällt, dass er heiratet (im Band Die Sache mit Frauke), und ein moderner Vater werden will, der sich nicht nur mit Windelwechseln herumschlägt, sondern auch ein Buch schreiben will „üba den janzen witzjen alltäglichen Wahnsinn mit so’n Kind.“ Arbeitstitel: Hey Baby. Stulle dazu: „Wird der Topsella.“
Das Unheimliche
Wohl eher nicht. Man atmet erleichert auf, dass sich vermutlich auch Stulles Hipster-Verdacht gegenüber Didi nicht bewahrheiten wird. Und jetzt wird es problematisch. Je besser man Didi und Stulle kennenlernt, je mehr Zeit man mit ihnen verbringt, desto stärker wünscht man sich, dass sie bleiben, wie sie nun einmal sind. Das ist schrecklich, aber es ist so, und wer ein Herz für Verlierer hat, der hat es dann eben auch für ihre Unzulänglichkeiten.
Aber kann man denn nicht noch mehr Gutes an den beiden hervorheben? Nun, fremdenfeindlich scheinen sie nicht zu sein. Man lebt eher so nebeneinander in ihrem Märkischen Viertel. Und in seiner Beziehung mit Frauke öffnet sich Didi ja auch, spricht erstmals von seiner „Angst“. Die Welt ist ihm fremd geworden. Er ist sich selbst fremd geworden.
Zeit also für die Psychoanalyse. Nach Sigmund Freud ist das Unheimliche ja nur das Vertraute in entstellter Gestalt. Was Freud noch nicht wusste: Durch die Angebote des Pop kann man es sich in diesen Entstellungen ganz bequem einrichten. So schwärmt Stulle für die „kranken Welten“ des „Marion Manson“ (!).
In Höllenglocken von 1999 schreibt er einen Brief an sein Idol: „I am great fan and I have a question: Do you know how I could go to hell?“ Didi ist nämlich in die Hölle geraten. Und jetzt wird es interessant. Wie schaut die Hölle aus? Nun, sie schaut genau so aus wie die Perleberger Straße in Moabit. Ein grandioser Witz, wenn man mich fragt. Didi findet seinen Freund wieder beim Spar. Er füllt die Regale. In der Hölle hat er einen Job. Es ist ein „erniedrigender, sinnloser Billiglohnjob“. Die Befreiung daraus gelingt spielend. Wir sind noch nicht im richtigen Leben.
Info
didi & stulle. Die Gesamtausgabe Fil Reprodukt 2016, 772 S., 99 €
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.