Berlin ist ja schon lange nicht mehr die „Zeitungsstadt“, die es einmal war. Zwar gibt es immer noch eine Handvoll Tageszeitungen, verteilt auf vier, fünf Verlage, aber seit langem verschwindet die Zeitung aus dem Stadtbild. Ein Sinnbild für dieses Verschwinden war die große Reklame für den Tagesspiegel, die den Heimkehrenden im Flughafen Tempelhof bis zu dessen Ende begrüsst hatte: Irgendwie, so schien es, würde mit der Schliessung dieses, wie aus der Zeit gefallenen Flughafens auch das Ende des Tagesspiegels gekommen sein.
War natürlich Unsinn, es gibt ihn noch. Und doch wird mir jedesmal warm ums Herz, wenn das Gegenüber in der Straßenbahn eine Zeitung aufschlägt. Ich fühle eine heimliche Komplizenschaft, die zum Ausdruck drängt (Augenzwinkern), und wenn es dann auch noch ein junger Leser ist, vermute ich einen Aussenseiter, mit dem man ein fürsorgliches Gespräch führen sollte. Gut, ist vielleicht auch übertrieben, aber wie gründlich die „Zeitungsstadt Berlin“ (Peter de Mendelssohn) passé ist, wird allein dadurch deutlich, dass das legendäre Ullsteinhaus in Tempelhof heute die SCHUFA und ein Callcenter der deutschen Bank beherbergt.
Bei seiner Fertigstellung 1927 war dieser neungeschossige Klinkerbau der modernste der Berliner Zeitungstempel; ein Jahr später, 1928, wurden in Berlin sage und schreibe 2633 Zeitungen und Zeitschriften gedruckt, darunter 147 Zeitungen, von denen rund zwei Drittel sechs Mal die Woche erschienen, manche davon zwei, einige sogar drei Mal am Tag: morgens, mittags und abends. „B.Z. am Mittag! B.Z. am Mittag!“ Freunde, das nenne ich Zeitungsstadt!
Intelligenz und Blatt
In den letzten Tagen kam nun ein Hauch von diesem alten Flair zurück. Mit einer aufwändigen Plakatkampagne machte der Springer-Verlag auf die Welt Kompakt aufmerksam. „Wir haben online so viele Freunde, das wir ein neues Wort für die echten brauchen. Sind wir reif für eine neue Zeitung?“ Fand ich ziemlich cool und clever, fast schon dialektisch gedacht. Auf den ersten Blick dreist und gar nicht raffiniert mutete dann allerdings an, als die Welt Kompakt mitten in dieser Kampagne, Dienstag vor einer Woche, mit einer riesigen Anzeige für die Telekom nicht nur ihre erste, sondern auch die letzte Seite komplett füllte.
Aber war das wirklich so dreist? Muss man sich darüber tatsächlich empören? Muss man nicht viel mehr den Hut ziehen vor dieser Aktion? In Wahrheit scheint sie ja eine überraschende, subtile Reminiszenz an den Zeitungsmythos der Stadt zu sein. Warum? Die erste Zeitung, die in Berlin täglich erschien, war das Intelligenz-Blatt. Aber anders als wir Heutigen den Titel verstehen, bestand der Inhalt dieses Intelligenz-Blattes aus dem 18. Jahrhundert nicht aus profunden Analysen und gescheiten Kommentaren, sondern zu hundert Prozent aus – Anzeigen. Anzeige und Nachrichten bedeuteten ursprünglich beide „Zeitung“. Aber das braucht man den Welt Kompakt-Leuten natürlich nicht zu sagen. Und demnächst in Ihrem Freitag: exklusive Informationen aus der Hand des Berliner Policey-Präsidenten , nach dem Vorbild von Heinrich von Kleists legendären Abendblättern.
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