Was mich am neuen Buch von Christa Wolf gestört hat

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Dass ich Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud mit gemischten Gefühlen gelesen habe, hängt vermutlich mit seiner problematischen Form zusammen. "Alle Figuren in diesem Buch, mit Ausnahme der namentlich angeführten historischen Persönlichkeiten, sind Erfindungen der Erzählerin" heißt es in einem Vorsatz. Ein Roman also, wie es auch der Klappentext behauptet? Nein, Christa Wolf hat keinen Roman geschrieben, auch wenn es in ihrem Text Erfindung und Fiktion geben mag. In seinem Zentrum steht etwas anderes: Das Leben einer Erzählerin, die identisch ist mit jener namentlich nicht angeführten historischen Persönlichkeit, die der Leser ohne weiteres als die berühmte Schriftstellerin Christa Wolf identifiziert, die sich zu Forschungszwecken Anfang der neunziger Jahre in Kalifornien aufhält und dort ihr Leben in der DDR Revue passieren lässt.

Verhielte es sich anders, so die etwas perfide Unterstellung, verlöre der Leser rasch die Lust am Lesen dieser exzessiven Erinnerungs- und Selbstfindungsprosa. Aber der Leser kann eben gar nicht anders, als zu identifizieren, und geht jenen "autobiographischen Pakt" (Philippe Lejeune) ein, der für diese Art von Lektüre bestimmend ist. Er lautet: Wenn du an mich glaubst, garantiere dir, dass ich mich bemühe, die Wahrheit zu schreiben (über mich, aber vielleicht sogar über dich).

Das Ich, das sich in dieser Prosa mitteilt, ringt also – wie es auch im Klappentext heißt – um "Wahrhaftigkeit". Es ist eine Prosa, an deren Anfang die großen autobiographischen Schriften eines Augustinus oder eines Rousseau standen, die in ihren Bekenntnissen, ihren Confessiones, die eigenen Schwächen zum Gegenstand literarischer Erkundung und beispielgebender Mitteilung gemacht haben. In der Moderne waren es dann Autoren wie Max Frisch, die diese Form der säkularisierten Beichte in eine ebenso aufregende wie enervierende Prosa transformiert haben. Oder eben Christa Wolf.

Im Zentrum ihrer "Confessiones" steht die Episode einer kurzen, offenbar nicht besonders gewissenhaft betriebenen Tätigkeit als Inoffizieller Mitarbeiterin des Ministeriums für Staatssicherheit zwischen 1959 und 1962, einer Zeit, wie die Erzählerin betont, die noch vor dem Beginn ihrer literarischen Karriere liegt. Dabei verschiebt sie den Fokus von der Tätigkeit selbst auf das Vergessen dieser "IM Margarete" (die ihr erst wieder bewusst wurde, als man ihr in der Gauckbehörde eine schmale Täterakte aushändigte, nachdem sie die ungleich umfangreichere Opferakte durchgearbeitet hatte).

"Wie konnte ich es vergessen?" zieht sich als Frage leitmotivisch durch den Text. Eine Frage, auf die es verschiedene Antworten von Dritten gibt, deren einleuchtendste vielleicht das Malwerk der Zeit ist, und die nebeneinander stehen blieben. So weit, so offen die Auseinandersetzung mit der eigene Schwäche und Verführbarkeit.

Daneben exitiert nun aber eine zweite Ebene im Text, die das Zweifeln und Tasten zwar nicht ausser Kraft setzt, aber doch in den sicheren Hafen der Selbstgewissheit führt. Auf dieser Ebene werden Schwächen in Stärken umgemünzt. Nun ist es vermutlich nicht nur für jemanden, der seine literarische Rolle so beispielgebend wahrnimmt wie Christa Wolf sehr schwierig, eine Schwäche als Schwäche stehen zu lassen. Attraktiver ist ganz allgemein die moralische Alchemie. Der klassische Modus dafür ist die Selbstkritik. Wilhelm Busch hat das in einem fabelhaften Gedicht gültig dargelegt:

Die Selbstkritik hat viel für sich.

Gesetzt den Fall, ich tadle mich,
So hab' ich erstens den Gewinn,
Daß ich so hübsch bescheiden bin;

Zum zweiten denken sich die Leut,
Der Mann ist lauter Redlichkeit;
Auch schnapp' ich drittens diesen Bissen
Vorweg den andern Kritiküssen;

Und viertens hoff' ich außerdem
Auf Widerspruch, der mir genehm.
So kommt es denn zuletzt heraus,
Daß ich ein ganz famoses Haus.

In Stadt der Engel kommt auf andere Weise ein ähnlich famoses Haus heraus. Ich möchte es kurz an einer Stelle des Romans verdeutlichen. Die Erzählerin erinnert sich, wie sie mit den Kollegen des (Getty-)Instituts, scherzhaft "die Gang" genannt, eine Predigt in einer Methodistenkirche in Los Angeles besuchte. Sie beschreibt sehr nachvollziehbar, wie unsicher sie sich als Weiße inmitten der schwarzen Gemeinde fühlte, dann aber setzte ein Chor ein, "alle begannen im Takt des Liedes zu klatschen, ich zögerte, hatte das Im-Takt-Klatschen immer verweigert, dann klatschte auch ich, es war nicht peinlich."

Könnte man das Zögern selbst als Ausdruck einer westeuropäischen Verklemmtheit deuten, so wird dieser Eindruck sofort durch den Hinweis auf die Verweigerung konformistischer Gesten getilgt ("hatte das Im-Takt-Klatschen immer verweigert"), ja geradezu in einen (im Buch stets präsenten) Kontext von Widerstand und Heldentum eingerückt, um sich dann in einem wohlgefälligen "dann klatschte auch ich, es war nicht peinlich" aufzulösen.

Das Zeichen "peinlich" erinnert wiederum an den Titel des Buches: The Overcoat of Mr Freud, der auf die Absicht verweist, die Abgründe seiner Seele mit den Mitteln der Psychoanalyse zu erforschen. Aber eine solche Arbeit wird im Buch eher behauptet, denn wirklich geleistet, oder was soll man selbst mit einem auch nur laienhaft psychoanalytisch imprägnierten Blick von der folgenden Szene halten?

Die Erzählerin zeichnet ein kleines Porträt ihrer ostelbischen Großmutter, einer "gefühlskargen, rechtschaffen Frau", um die sie nicht trauern konnte.

"Und fragte Angelina. Was hat dich gehindert, um sie zu trauern?

Ich habe mir verwehrt zu denken, dass sie ein unschuldiges Opfer war, sagte ich. Ich habe meine Gefühle abgeschnitten, wie ich den Verlust der Heimat und unsere Leiden als gerechte Strafe für die deutschen Verbrechen empfinden sollte und wollte. Ich habe mich auf den Schmerz nicht eingelassen."

Ist das plausibel? Vielleicht war es für jene erfundene oder echte Angelina im Text tatsächlich nachvollziehbar, dass die Erzählerin aus politisch-ideologischen Gründen den Tod der Großmutter nicht betrauern konnte, aber ich als Leser anerkenne zwar die Noblesse des politischen Motivs, hätte aber doch wahrhaftiger gefunden, wenn die Unfähigkeit zur Trauer schlicht und ergreifend auf das kalte Herz der Großmutter zurückgeführt worden wäre. So stark möchte ich den autobiographische Pakt dann doch eingehalten wissen, wenn mir der versprochene Roman schon vorenthalten wird...

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Angele

Ressortleiter „Debatte“

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hing er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fußball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

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