Wer braucht schon Debatten?

Einspruch Über so gut wie alles kann man diskutieren. Aber ist es auch sinnvoll?
Ausgabe 45/2020
Wer braucht schon Debatten?

Illustration: der Freitag

Im Grunde genommen kann man über alles debattieren, was sich nicht von selbst versteht. Ein paar Beispiele aus den letzten Wochen: Kennzeichen für Fahrräder, Rehwildabschuss, Taschenkontrollen in Museen, und dann gab es in der Gemeinde Murau auch noch eine Debatte über das Feuerwehrhaus, die, so liest man in der Lokalpresse, „neu entflammte“. Sie, lieber Leser, liebe Leserin, entflammen bei dieser Aufzählung vermutlich eher nicht.

Und die Öffentlichkeit entflammte auch nicht bei der Debatte über den Abschiebestopp von syrischen Flüchtlingen und schon gar nicht bei der Debatte über eine Kritik am Pianisten Igor Levit, denn das ist eine Feuilleton-Debatte, die nach Schätzungen eines Experten am Biertresen „98 Prozent der Bevölkerung am A… vorbeigeht“.

Über Islamismus würde man allerdings schon heftiger diskutieren, wäre da nicht ... Corona. Die Megadebatte. Das „Riesenthema“ (Moritz von Uslar). Debatten neigen zur Monopolisierung. Sie verlangen für eine gewisse Zeit unsere ungeteilte Aufmerksamkeit, in der Regel höchstens für ein paar Tage.

Bei Corona geht das aber nun schon seit Monaten so, die Pandemie fesselt uns eben buchstäblich. Wer einen Debattenteil macht, sollte trotzdem versuchen, den Raum für andere wichtige Debatten zu öffnen. Beim US-amerikanischen Wahlkampf fällt das relativ leicht. Im Oktober kam es zum zweiten Fernsehduell. Eine Zeitung titelte: „Finales TV-Duell Trump gegen Biden: Debatte statt Schreifest“. Daraus spricht der Wunsch nach einer Debattenkultur. Gemeint ist damit vor allem: das, was man in sozialen Netzwerken kaum antrifft. Sondern eben immer noch in Zeitungen. Debatten verlangen Formate, Regeln. Bis heute gibt es zahlreiche Debattierklubs nach historischem Vorbild. Dort lernt man, sich die Argumente des Gegners so gut zu eigen zu machen, dass man beinahe selbst überzeugt worden wäre.

Generell gilt: Debatten werden meta. Das trifft ja auch auf Covid-19 zu. Berichten die Medien angemessen? Das ist eine Frage, die nicht nur Medienjournalisten interessiert. Längst ist der politisch interessierte Teil der Bevölkerung auch medienpolitisch wach. Welche Experten kommen wo zu Wort? Und wichtiger noch: Welche kommen wo nicht zu Wort? Stichwort: Cancel Culture. Mit Debatte verbindet sich verstärkt das Wissen um das, was sie ausschließt. Eigentlich eine gute Sache. Jahrzehntelang haben kritische Menschen diese Sensibilität eingefordert.

Widerspruch erwünscht

Aber nun scheint in der Teilnahme an Debatten etwas aus dem Ruder zu laufen. Da schreibt Carolin Emcke: „Das müssen wir, die wir in der Öffentlichkeit sprechen oder schreiben, bedenken ... Niemand spricht oder schreibt in einem erfahrungsleeren Raum. Wir müssen fragen, bei jedem Satz, den wir schreiben, jedem Bild, das wir evozieren, was wir darin zitieren, welche Erinnerungen damit für wen verkoppelt sind, welche Stimmen so legitimiert oder delegitimiert werden.“

Klingt erst mal gut. Nach „woke“, nach Verantwortung. Liest man die Sätze aber genauer, spricht Hybris aus ihnen. Ich kann doch gar nicht bis ins Letzte wissen, welche Effekte meine Rede und meine Meinung auf andere haben werden. Öffentlichkeit funktioniert nicht wie eine Klinik. Viele beklagen einen hohen moralischen Ton in den Debatten, Gesinnungskitsch, sehen den „Meinungskorridor“ enger werden. Diese Kritik kommt oft aus der konservativen Ecke. Aber nicht nur. Wer zum Beispiel der Meinung ist, dass man in der Flüchtlingsfrage primär „Fluchtursachen“ bekämpfen müsste, landet, wenn er nicht ein Rassist ist, schnell bei einer radikalen Kritik an der Weltwirtschaft.

Überhaupt finden die wirklich erhellenden Debatten oft unter Ökonomen statt. Aber wir schenken ihnen nicht immer die gebotene Aufmerksamkeit, sie treffen uns erst einmal nicht ins Mark, „triggern“ nicht. Denn Ökonomen kennen keine ethnischen oder sexuellen Gruppen, denen ein Opferstatus zu- oder abgesprochen werden kann, sondern nur den „homo oeconomicus“. Alte Menschen leiden hier nicht unter „Ageismus“, sondern unter zu niedrigen Renten. Wenn ich das schreibe, provoziere ich natürlich Widerspruch. In einer Debatte sollte das ausdrücklich erwünscht sein. Warum? Weil es frei macht.

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Geschrieben von

Michael Angele

Ressortleiter „Debatte“

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hing er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fußball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

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