Wenn es in der Begründung der Akademie für Sprache und Dichtung zum Büchnerpreis 2015 heißt, sie habe mit Rainald Goetz einen Autor ausgezeichnet, der die Gegenwart „gefeiert und verdammt“ und immer wieder mit den „Mitteln der Theorie“ analysiert habe, dann könnte man lapidar auch sagen, dass Goetz ein Autor ist, der Gefühl und Verstand zusammenbringt. Allerdings fällt es auch in diesem Fall leichter, über den literarischen Verstand zu sprechen. Rainald Goetz verdient den Preis zwar schon deshalb, weil seine Gegenwartsanalyse von einem extrem hohen Formbewusstsein geleitet wird, sei es im vermeintlich naiven Realismus seines Romans Johann Holtrop, der das Zeitungswissen über Thomas Middelhoff nutzt, um den tragikomischen Kern von Wirtschaftsmacht bloßzulegen, sei es in seinem glänzenden Internet-Tagebuch Klage, das mit Essay, Anekdote, Protokoll und Gedicht den Berliner Kultur- und Politikbetrieb seziert.
Aber Gefühle? Oder, präziser, Stimmung? Was ist das? Wie darüber sprechen, ohne phrasenhaft zu werden? Man kann Evidenzen beschwören: Dem Goetz-Leser wird einleuchten, dass dessen bisheriges Werk in zwei Phasen fällt, in die dunkle Stimmung des Frühwerks der 1980er Jahre und in die heitere, gelöste Stimmung der späten 1990er Jahre, mit Rave und Jeff Koons. Danach fällt es schwerer, eine dominante Gefühlslage zu benennen, wenngleich Rainald Goetz in einem Interview zum Holtrop eine hermeneutische Brücke geschlagen hatte. „Wut ist eine herrliche Energie, und sie sollte da sein“, sagte er der Zeit. Wer mit Punk und New Wave aufgewachsen ist, wird den Originaltext im Ohr haben – „Anger is an energy“ heulte John Lydon in einem alten Song von Pil; die Zeile ist auch der Titel von Lydons veröffentlichter Autobiografie.
In unseren Hirnen
Anger, deutsch: Zorn, Wut, ist der Schlüsselbegriff zum Verständnis jener subkulturellen Milieus der späten 70er, frühen 80er Jahre, von denen Rainald Goetz geprägt ist. In der Wortverbindung von anger management, von Aggressionsbewältigung also, weitergedacht, kommt man noch ein Stück näher an sein Frühwerk. „Aggression und Melancholie: Stifter/Büchner, Handke/Goetz“ hieß ein germanistisches Seminar, das ich im Wintersemester 88/89 besuchte. Ich habe keine Aufzeichnungen mehr, obschon ich zum manischen Protokollieren neige und mich also selbst in die Reihe jener etwas goetzartigen Wesen stellen muss, von denen es in solchen Seminaren dann immer einen gab, schwarz gekleidet, am Rand sitzend, aufschreibend, mitschreibend, und man konnte nur ahnen, was in seinem Hirn los war.
Hirn, so lautete ein Band mit kleinen Schriften, der mit der Stückesammlung Krieg erschien. Hirn, Krieg, Sound. Goetz, das bedeutet Sound. Sound aber, könnte man sagen, ist in Sprache geronnene Stimmung, und Stimmung schließlich das, was man an einem Werk wiederum begriffslos teilt. Wer teilt im Fall von Goetz? Wer sind seine Leser? Fraglos ist er im Laufe seiner Karriere ein (Feuilleton-)Writer’s-Writer geworden. Ähnlich wie Thomas Bernhard brachte er ein Epigonentum hervor, das sich noch in einigen Würdigungen des neuen Büchnerpreis-Trägers zeigt. So wurde auf Spiegel Online in einem für Goetz typischen Paroxismus gesagt, worum es ihm „eigentlich“ gehe: „Nähe und Abstand, Raserei und Analyse, Terror, Angst und Schönheit, Versenkung, Verzweiflung, Erlösung am Morgen.“ Und vielleicht auch eine Tasse Kaffee am Mittag.
Erregungszustände
Nun ist Goetz schon deshalb ein Liebling des deutschen Feuilletons, weil er sich bis in seine feinsten Verästelungen an ihm abarbeitet. Dagegen ist nichts zu sagen, aber was fängt jemand mit einem „Verzweiflung, Erlösung am Morgen“ an, der Goetz vielleicht noch nicht kennt, aber lesen möchte? Einfache Auskünfte über die Stoffe dieses Schriftstellers bekommt man dieser Tage eher wenige. Als prägender Eindruck bleibt dem Publikum vermutlich: Goetz lesen ist irgendwie intensiv. Das ist nicht falsch, und wird ihm doch nicht gerecht.
Nun ist der Büchnerpreis nicht nur wegen seiner hohen Preissumme bedeutend, sondern auch wegen der Rede, die der Preisträger zu halten hat. Sie hat sich mit Georg Büchner auseinanderzusetzen und wurde schon öfter zum Schlüssel für das eigene Werk, etwa bei Paul Celan. Man darf also gespannt sein, was Rainald Goetz am 31. Oktober sagen wird. Anschlüsse an das Werk Büchners gibt es jedenfalls genug. Beide sind naturwissenschaftlich geschult, beide haben sich mit dem Wahnsinn beschäftigt und mit den Geisteskrankheiten (was nicht dasselbe ist). Büchner in Lenz und Woyzeck, Goetz in Irre, seinem Debütroman von 1983. Beide konfrontieren die leidende Kreatur mit dem kalten ärztlichen Blick.
Allerdings gibt es einen wichtigen Unterschied. Dem verzweifelten Helden von Irre stehen weder die Politisierung des Elends noch eine Romantisierung des Wahnsinns zur Verfügung. „Alles Quatsch. Die Irren sind nämlich irr. Die sind keine Künstler oder Revolutionäre. Die sind einfach irr. Da kann mir kein Laing mit Hirngewixe kommen“, konstatiert Raspe, Alter Ego des Schriftstellers Goetz, der am Beginn einer Karriere als Psychiater steht und in einer Anstalt assistiert.
Anders als die Patienten kann er seine „Erregungszustände aller Art“ allerdings produktiv machen. Er ist nicht der „erregte Patient“, sondern, könnte man sagen, der „erregte Dichter“. Wohin aber mit der Wut? In Irre geht sie in den Underground, in die weißbierseligen Gespräche und in die Musik der Szene, in die Raspe nach Dienstschluss eintaucht, sie geht aber auch in die Sprache, in den Roman selbst, davon zeugt sein fragmentarischer dritter Teil.
Amok Koma
Es ist eine Wut, die frei flottiert, und von den Lesern flüchtig gebunden werden kann, damals besonders an die Imaginationswelten des Pop. Wenn ich heute an Irre denke, denke ich zuerst an eine Nebenfigur: an Walther Zarges, der nicht nur unter Gedankenzwang litt, sondern auch an einem Zählzwang. Von diesem Zählzwang komme ich dann sofort auf einen Song von Abwärts aus dem Album Amok Koma (1980): „Sag mir wie viel Autos gibt es in der großen weiten Welt/Sag mir, wie viele Flugzeuge gibt es an dem schönen Himmelszelt/sag es noch einmal/nun noch Millionen Mal/ ich möchte sehen, wie du dich verzählst.“
Der Song endet mit einem höhnischen Gelächter, er stellt eine Kinderfrage, und der, der sie stellt, imaginiert sich als böses Kind. Rainald Goetz hat zur Kinderpsychiatrie promoviert, die ersten Texte, die er schrieb, waren – die SZ erinnerte es neulich – Rezensionen von Kinder- und Jugendbüchern. Kinder kommen im Werk von Goetz, soweit ich sehe, bisher nicht vor, aber das müssen sie gar nicht: In der Wut bleiben wir Kinder, und das ist nicht böse gemeint.
Man kann diese Wutgeschichte fortschreiben. In seinem zweiten Roman Kontrolliert von 1988 hängt sie sich an den Diskurs über die RAF-Terroristen, es ist abermals eine große Erregung, die sich nicht in einer politischen Bewegung auffangen ließ, die dem Deutschen Herbst ambivalent begegnete, zynisch, verzweifelt.
Also ich, also wir
Und natürlich muss man von Subito sprechen. Das aggressive Gleiten der Signifikanten, die große semiotische Energieverschiebung, kann in diesem Text, den er 1983 beim Bachmannpreis-Lesen in Klagenfurt vorlas, idealtypisch verfolgt werden, es ist auch einer der wenigen Texte, die eine geläufige literaturwissenschaftliche Metapher jener Zeit beim Wort nehmen: Der Text schreibt sich in den Körper seines Autors ein.
Subito ist aber auch der erste in einer Reihe von Texten, die ihre Wut an „Klagenfurt“ entladen, das synonym für einen Kulturbetrieb steht, zudem man sich offenbar nur aggressiv-neurotisch verhalten kann, wenn man kein Ja-Sager sein will und kein konsequenter Nein-Sager sein kann. Also ich, also wir. Also wir gestörten Kulturbetriebsmenschen, gespiegelt in Goetz. Das ist, man muss es zugeben, nicht für alle interessant, und im Guten wie im Bösen ziemlich weit entfernt von den gewaltigen Zorn-Energien und Zorn-Kollektiven, von denen Peter Sloterdijk sprach.
Aber die Wut treibt ja über das Werk hinaus, man findet sie nun auch bei Autorinnen wie Antonia Baum oder Ronja von Rönne, man weiß noch nicht so ganz, wo sie hintreiben wird, aber dass diese Wut keine exklusive Angelegenheit von Männern sein muss, die schreiben (und wie Goetz in ihrem Werk für Frauen wenig Platz haben), kann man nicht schlimm finden. Und auch nicht, dass sie dann zuweilen doch wieder klingt wie Goetz am Anfang seiner Karriere: „‚Ich will nur ein bisschen Krieg. Ich will nicht, dass alles so gemütlich ist‘, sage ich und trinke ihr Bier aus.“
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