Ui, das wird hoffentlich die Geschichte eines produktiven Irrtums. Als ich vorschlug, den Künstler Thomas Hirschhorn für unsere Serie „Wer bringt die Zukunft?“ vorzustellen, habe ich nicht nachgedacht. Ich stand unter dem Eindruck von Hirschhorns letzter „Arbeit“ (verhasstes Wort, das auf seine Kunst aber zuzutreffen scheint), der Robert-Walser-Skulptur in Biel. Die Skulptur bedeckte drei Monate den Bahnhofsplatz dieser zweisprachigen Stadt in der Schweiz; ein Gebilde aus Paletten und Sperrholzplatten, begehbar, mit Bühne und Schuppen und Brücken und Treppen, verschachtelt, das Holz mit Sprüchen und Zitaten verziert. Menschen hielten Vorträge, hörten zu, lasen Bücher des in Biel aufgewachsenen Schriftstellers Robert Walser oder hingen einfach rum.
Das Ganze wirkte, als hätte Joseph Beuys in den 1990er Jahren ein autonomes Jugendzentrum geschaffen, etwas, das er, Beuys, „Soziale Plastik“ genannt hätte und das nicht zuletzt auf die Marginalisierten der Stadt einen magischen Einfluss ausübte, zu denen sich dann bis 22 Uhr das kunstaffine Volk gesellte. Ein bunter Mischmasch und ein Ärgernis für die wohlanständigen Bürger, die ihren Bahnhofsplatz verschandelt sahen. Toll, aber auch irgendwie retro. Zukunftsweisend wirkte diese Skulptur auf den ersten Blick umso weniger, als sie in einer Stadt stand, die sich, Sitz der Uhrenindustrie, in den 1960er Jahren „Zukunftsstadt“ nannte, aber diese Zukunft auf unschweizerische, teils geradezu heruntergekommene Art gut sichtbar hinter sich gelassen hat. Verdammt, die Serie heißt aber nicht „Was versprach die Zukunft einmal und wer zeugt heute noch davon?“. Ich musste Hirschhorn schreiben.
Schweiz-Boykott gegen Blocher
„Lieber Herr Hirschhorn, ich habe Sie dummerweise für unsere Serie ‚Wer bringt die Zukunft‘ vorgeschlagen. Ich finde Ihre Arbeiten super. Aber bei der Kunst der Zukunft denkt man an Roboter, digitale Revolution etc. Dafür stehen Ihre Arbeiten nun gerade nicht. Bitte helfen Sie mir. Sie sind bestimmt dennoch der Richtige ...?“
„Der Richtige bin ich bestimmt nicht“, antwortete Hirschhorn. „Ich würde mich nie als ‚Visionär‘ und auch nicht als ‚Visionär der Zukunft‘ bezeichnen. Meine Obsession ist nicht die Zukunft, sondern das Jetzt und Hier. Ich frage mich, wie kann ich eine Arbeit machen, heute, die a-historisch ist? Wie kann ich eine Arbeit machen, die sich nicht der Aktualität, den Tagesinformationen oder den Fakten beugt?“
Gut, ja. Gibt es eigentlich einen Künstler, der sich selbst als „Visionär“ bezeichnen würde? Und als „letzter Visionär“ gilt sowieso Beuys. Mal schauen, erst einmal ein paar biografische Daten: Thomas Hirschhorn, 1957 in Bern geboren, aufgewachsen in Davos, hat in Zürich die Hochschule für Gestaltung und Kunst besucht. Als Studierender begeisterte ihn die Arbeit Running Fence von Jean Claude und Christo. „Die Poesie, die Behauptung, die Schönheit, die zeitliche Begrenzung dieser Arbeit hat mir vorgegeben, was Kunst bewirken kann, was Kunst verändern kann und wie Kunst Dimensionen sprengen kann.“
Einen Namen machte sich Hirschhorn 2004 mit seiner Installation Swiss-Swiss Democracy im Schweizer Kulturzentrum in Paris. Genauer gesagt, wurde er in der Schweiz bekannt wie ein bunter Hund, weil er sich mit Christoph Blocher von der Partei SVP anlegte. Es war nur ein Detail der Ausstellung, aber es überstrahlte alles: In dem integrierten Theaterstück Wilhelm Tell urinierte ein Darsteller kurz auf einen Karton, auf den ein Bild Blochers geklebt war. Und dem Radio erklärte Hirschhorn, solange Blocher Bundesrat sei, werde er in der Schweiz nicht mehr ausstellen. Hirschhorn provozierte also. Er will das aber so nicht stehen lassen: „Es war kein Kunstskandal, es war ein hysterischer, selbstproduzierter Medien- und Politiker-Skandal, für mich eher ein ‚Skandälchen‘, der nichts mit der wirklichen Arbeit vor Ort zu tun hatte. Ich weiss, dass es bei jeder nüchternen Betrachtung lächerlich ist, sich von so einer Szene provoziert zu fühlen. Aber es brauchte für eine gewisse revanchefreudige Presse einen Skandal, da ich zur gleichen Zeit – ganz alleine – einen Boykott der Schweiz als Ausstellungsort ‚unter‘ diesem rechtspopulistischen Bundesrat ausgesprochen und ihn auch erfolgreich durchgezogen habe. Ich habe viel über eine gewisse Form von Journalismus, über gewisse Tageszeitungen und ihre Verbindungen mit der Tagespolitik gelernt und natürlich wurde das Ganze eine schamvolle Illustration dessen, wie weit rechtspopulistische Strömungen in der Schweiz unterschwellig Einfluss haben.“
Das kann man durchaus als aufklärerische Tat begreifen, und doch: Eine Kunst, die provozieren will, um eine undemokratische Struktur offenzulegen, mag vor gut 15 Jahren anders gewirkt haben als heute, wo das Erfolgsrezept der Rechtspopulisten selbst in permanenter, für jeden vernünftigen Menschen nervtötender Provokation liegt. Zukunftsweisend scheint mir auch das nicht. Aber Provokation scheint mir auch gar nicht das offenkundige Merkmal von Hirschhorns Kunst zu sein. Eher ist es sein Umgang mit den Materialien, den man bestimmt als ökologisch bezeichnen kann, odrrr, Herr Hirschhorn?
„Ich arbeite mit Materialien, die jedermann kennt und benutzt, mit Holz, mit Karton, mit Aluminiumfolie, mit Papier, mit Plastik, mit Klebeband, mit Materialien, die keinen Mehrwert haben, mit Materialien, die von der Strasse kommen oder aus der Küche. Es sind Materialien, die überall vorhanden sind, die greifbar und billig sind. Universelle Materialien. Ich habe mich für diese Materialien entschieden, da sie niemanden durch ihre Materialität ausschliessen und weil sie niemanden einschüchtern. Mit diesen Materialien zu arbeiten heisst, eine Position zu beziehen, und für mich heisst das ‚politisch arbeiten‘. Ich habe mich also aus politischen Gründen für diese Materialien entschieden und nicht aus ökologischen.“
Okay, okay. Politische Kunst also. „Kunst im öffentlichen Raum“ hätte man früher gesagt. Nehmen wir das Gramsci Monument von 2013. Die Skulptur bot das typische Hirschhorn-Programm: Lesungen und Workshops für Kinder und Erwachsene, Hirschhorn selbst las über Kunst, eine tägliche Radiosendung und Zeitung wurden produziert. In der Bibliothek stand eine Auswahl von Büchern von und über den marxistischen Philosophen Antonio Gramsci, es gab eine Theaterplattform, eine Lounge, eine Internet-Ecke und eine Bar, die von Anwohnern betrieben wurde: Für Hirschhorn ist nicht nur wichtig, wer sein Werk nutzt, sondern auch, wer es schafft, und das sollen möglichst nicht die üblichen Verdächtigen sein.
„Diese Arbeit entstand nur dank der Hilfe von BewohnerInnen des NYCHA-Projekts ‚Forest Houses‘ in der South Bronx. Dabei war es eine tolle Erfahrung, dass es gerade die Bewohner von ‚Forest Houses‘ waren – die etwa zu gleichen Anteilen aus Afro-Amerikanern und Hispano-Amerikanern bestehen –, die diese Arbeit ermöglicht haben. Das Gramsci Monument stand dort, wo es stand, weil Bewohner von ‚Forest Houses‘, eigentlich ein Bewohner, Erik Farmer, der Präsident der Bewohnervereinigung, den ich auf einem von vielen Fieldworks in New York City kennengelernt habe – mir gesagt hat: ‚Ich mache das Gramsci Monument mit dir, ich, wir helfen dir!‘ Es war also nicht so, dass ich den Ort ausgesucht habe, sondern die Bewohner von ,Forest Houses‘ haben zu meinen Plan ‚Ja‘ gesagt.“
Dass Hirschhorn diese Arbeit besonders wichtig ist, verwundert nicht. „Ich denke viel an diese – für mich wichtige – Arbeit und an die Bewohner von ‚Forest Houses‘, nicht nur wegen Black Lives Matter oder der Corona-Krise, sondern weil es eine schöne, positive und komplexe Erfahrung war.“
Der Künstler Thomas Hirschhorn will also, dass Kunst mit den Menschen etwas macht, dass sie sie verändert, indem sie sie dort abholt, wo sie sind. Und er will, dass sie ein Teil dieses Werks sind oder werden. Es ist ein Angebot an alle. Inklusive Kunst. Oder, wie er einmal gesagt hat: „Niemanden ausschließen, versuchen, alle einzubeziehen. Gratis. Aber auch freudig. Mit Spaß. Schaffen, kämpfen, das verstehe ich als Aufgaben der Kunst heute.“
Sind das nicht olle Hippie-Ideen? Ja, sind es. Und ich denke: Jetzt, wo Schlingensief tot ist und das Zentrum für Politische Schönheit zum Mediengag regrediert hat, ist es gut, dass es diesen scheinbar altmodischen „Visionär“, der keiner sein will, gibt.
Und wenn es denn unbedingt einen Zukunftsbezug braucht: Eine Zukunft, der diese Hippie-Ideen völlig fremd geworden sind, wird keine gute sein. 2022 wird man diese These bei der Ruhrtriennale prüfen können, Hirschhorn wird dort mit einer großen Arbeit präsent sein.
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