Lautlos in Erfurt

Rot-Rot-Grün Seit mehr als 100 Tagen ist Bodo Ramelow im Amt – und selbst erstaunt über den kühlen Pragmatismus der Regierung
Ausgabe 12/2015
Schubidubidu: Ministerpräsident Ramelow beim Empfang für die niederländische Botschafterin
Schubidubidu: Ministerpräsident Ramelow beim Empfang für die niederländische Botschafterin

Foto: Jacob Schröter/Imago

Friedlich liegt der Hirschplatz gegenüber der Thüringer Staatskanzlei in der Frühlingssonne. Ein paar Leute schlendern über das struppige Gras und nichts deutet darauf hin, dass gegenüber, hinter den barocken Mauern der ehemaligen Kurmainzischen Statthalterei, seit mehr als 100 Tagen ein politisches Experiment läuft, das noch vor einigen Monaten die Republik in Atem gehalten hat. Denn nichts anderes als der Untergang des Landes wurde vor dem 5. Dezember 2014 lautstark beschworen, dem Tag, als mit Bodo Ramelow erstmals ein Mitglied der Linkspartei zum Ministerpräsidenten eines Bundeslandes gewählt wurde. Zuvor hatten auf dem Erfurter Domplatz rund 4.000 Bürger gegen angeblich drohende kommunistische Experimente demonstriert. Sogar der frühere Thüringer SPD-Minister Gerd Schuchardt oder der Dichter Reiner Kunze warnten vor einem Pakt mit der Partei, die auch 25 Jahre nach dem Fall der Mauer für sie immer noch die SED-Nachfolger sind. Doch an den Landesgrenzen stößt man seither weder auf Schlagbäume noch auf Stacheldraht, Opel in Eisenach ist nicht zum Volkseigenen Betrieb verstaatlicht worden, beim Bäcker bezahlt man nicht mit DDR-Alu-Chips. „Es gibt immer noch Bananen und die Arbeitslosigkeit ist gesunken“, bilanzierte gewohnt spitz Ramelow selber.

Es geht seinen Gang – bestenfalls dieser Spruch aus sozialistischen Zeiten würde zum vermeintlichen Revolutionsausbruch in Thüringen passen. Sergej Lochthofen, langjähriger ehemaliger Chefredakteur der Thüringer Allgemeinen, spricht sogar von „Normalität bis hin zur Langeweile“. „Die Wähler haben im September 2014 nicht den Wechsel gewählt“, verblüfft Staatskanzleichef Benjamin-Immanuel Hoff. „Sie wollen nur gut regiert werden.“ Der erst 39-Jährige mag nicht einmal von einem Thüringer Modell sprechen. „Wir könnten auch eine Fußnote der Geschichte bleiben“, räumt er ein. Was ihn nicht hindert, im Restaurant „Rossini“ gleich gegenüber der Statthalterei für eine mindestens zehnjährige Amtszeit seines Chefs zu plädieren und Strategien einer „doppelt sozialdemokratischen Hegemonie“ von SPD und Linken zu entwerfen.

Willkommen im Jetzt

Der so angesprochene Ministerpräsident speist am Nebentisch. Schon im Wahlkampf hatte sich der einstige Gewerkschaftskämpfer auffällig zum designierten Landesvaters für alle gewandelt. Jetzt redet er mit Wirtschaftsvertretern im Lande und CSU-Politikern im Bundesrat, empfängt Sternsinger und Elferräte, und in seiner niedersächsischen Geburtsstadt Osterholz-Scharmbeck haben unbekannte Fans sogar einen Platz nach ihm benannt.

Der Keil des russischen Kunstrebellen El Lissitzky, der anstelle des i-Punktes auch im Logo der Linkspartei prangt, ist vom Revers seines Anzugs verschwunden, obschon der Anstecker eine Sonderanfertigung für ihn war. Dort leuchtet jetzt das Thüringen-Wappen mit dem blau-roten Löwen. Versöhnen statt spalten? Nachdenkliches Nicken. Als die Rede auf den Verfolgungseifer der sächsischen Justiz kommt, die Ramelow unbedingt wegen angeblicher Blockade eines Nazi-Aufzugs im Februar 2010 in Dresden belangen will, kommt aber die Rampensau von einst wieder durch. „Wenn ich schon einsitzen muss, dann aber standesgemäß auf der Festung Königstein“, bittet er sich aus.

Die öffentliche Wahrnehmung Ramelows als Staatsmann mag dazu beigetragen haben, dass die Linkspartei in einer Umfrage gegenüber der Landtagswahl sogar noch einen Punkt zugelegt hat. Trotz leichter SPD-Verluste bliebe die knappe Mehrheit von Rot-Rot-Grün stabil. Diese Ein-Stimmen-Mehrheit ist in den ersten beiden Arbeitssitzungen des Landtages allerdings noch nicht strapaziert worden.

Es gehört zum Geschäft der neuen Opposition, ihrerseits Lissitzky-Spaltkeile gerade dort anzusetzen. „Wie lange hält die Linke Bodo Ramelow aus?“, spekuliert CDU-Fraktions- und Landesvorsitzender Mike Mohring auf den alten Zwist zwischen Realos und Fundis. Ramelow hatte sich in einem Interview selbst als den „mittigsten“ im linken Teil der Regierung bezeichnet. Seiner Zustimmung zu Sätzen wie „Die DDR war eine Diktatur, kein Rechtsstaat“ in der Präambel des Koalitionsvertrages folgten bei weitem nicht alle Parteimitglieder. „Die Partei ist für das linke Profil der Landesregierung zuständig, Ramelow ist für alle da“, sagt die Linksfraktionschefin Susanne Hennig-Wellsow. Im Herzen bleibe Ramelow aber ein Linker, fügt sie hinzu.

Selbst beim scharfzüngigen Mohring wirkt die 100-Tage-Kritik an der Linksregierung wie eine Pflichtübung. Das vom ehemaligen bayrischen Ministerpräsidenten Max Streibl gestiftete Kruzifix im CDU-Fraktionsraum kollidiert mit seinem aufgesetzten Gepolter von „Wortbruch, Stillstand, Frustration, Ideologie“. Nur die Hälfte ihrer Sofortvorhaben habe die Regierung umgesetzt – immerhin. Dinge, die der CDU wenig passen wie der Winterabschiebestopp für Flüchtlinge, die Gesetzentwürfe zur Abschaffung des Landeserziehungsgeldes, zum Wahlrecht mit 16 Jahren und zur Bildungsfreistellung für Arbeitnehmer. Das frei werdende Geld aus der „Herdprämie“ soll ab 2017 einem beitragsfreien Kitajahr zugute kommen. Der Untersuchungsausschuss zum rechten NSU-Terror wird seine Arbeit umgehend wieder aufnehmen. Der erstmals in dieser Woche tagende Koalitionsausschuss hat sich auf eine neue Festbetragsfinanzierung für Freie Schulen verständigt. Mit deren jährlicher Steigerungsrate von 0,25 Prozent sind die Träger allerdings unzufrieden.

Rot-Rot-Grün hat das angekündigte Startprogramm nach Kräften in Angriff genommen. Hauptbaustelle ist derzeit das „Kommunalfinanzierungsübergangsgesetz“, das vor den ausstehenden Haushalt gezogene Sofortprogramm. Die Kommunalfinanzen sind bei auffallend kämpferischen Gemeinden ein Dauerbrenner in Thüringen. Erst im kommenden Jahr soll eine gerechtere Neustrukturierung des kommunalen Finanzausgleichs erfolgen, die Hilfsprogramme überflüssig macht. Nach Gesprächen erwartete der Städte- und Gemeindebund frische 135 Millionen Euro für 2015. Aber Innenminister Holger Poppenhäger und sein SPD-Landeschef, Erfurts Oberbürgermeister Andreas Bausewein, fielen im Kabinett damit durch.

Nun sollen effektiv 94 Millionen Euro fließen, „immer noch das größte Nachschusspaket seit 25 Jahren“, wie Bausewein sagt. Angesichts der Zahlenspiele um Brutto und Netto eine umstrittene Summe. Ein internes Papier der Koalition rechnet alle Wohltaten zusammen und kommt auf ein Plus von 242 Millionen, die CDU sieht ein Minus von 48 Millionen gegenüber 2014. Die beiden Villen, in denen der Landkreistag und der Städte- und Gemeindebund im ruhigen Erfurter Südwesten sitzen, lassen nicht sofort auf besonders arme Thüringer Gemeinden schließen. Inzwischen sind es weniger als 100, die noch keinen bestätigten Haushalt für das laufende Jahr haben. Die aussichtslos in der Pleitefalle sitzende ehemalige Reußen-Residenz Gera ist allerdings ein besonders krasses Beispiel.

Gemeindebund-Geschäftsführer Ralf Rusch erkennt zwar das Bemühen der neuen rot-rot-grünen Regierung und ihre anfängliche Gesprächsbereitschaft an. Mit dem Hilfspaket und der momentanen Kommunikation ist er aber nicht zufrieden. Und er hält es für einen Rechtsbruch, dass zumindest einzelne Linkspartei-Abgeordnete auch solchen Kommunen Investitionsmittel versprechen, die nicht einmal einen ausgeglichenen Verwaltungshaushalt vorweisen können.

Auch die linksgeführte Koalition kommt also in der Realität und in der Normalität an. So, wie die grüne Umwelt- und Energieministerin Anja Siegesmund den dritten Bauabschnitt der „Thüringer Strombrücke“ Richtung Bayern nicht mehr verhindern kann. Und auch in Thüringen murren Landräte gegen die Lasten der Flüchtlingsunterbringung, obschon das Land nach Angaben von Grünen-Fraktionschef Dirk Adams dafür mindestens 42 Millionen Euro bereitstellt.

Die CDU-Opposition erwartet ihrerseits Irreales, wenn sie jetzt schon auf ein Leitbild für das unter ihrer 25-jährigen Vorherrschaft verschleppte Großprojekt einer Funktional- und Gebietsreform drängt. Bei knapp 2,2 Millionen Einwohnern erinnert Thüringen mit 23 Kreisen und kreisfreien Städten immer noch an die Kleinstaaterei des frühen 19. Jahrhunderts. Die knappe Mehrheit werde die Koalition nicht von diesem Vorhaben abbringen, bekräftigt Linken-Chefin Hennig-Wellsow. Der neu aufzustellende Landeshaushalt, den vor allem Zuwendungsempfänger dringend erwarten, kann beim besten Willen nicht vor April das Kabinett passieren. Schuldenfrei soll er sein und kaum wachsen.

Das ginge so langsam, weil die Ministerien mit ihrer Neustrukturierung und Umzügen beschäftigt sind, kritisiert indes nicht nur die Opposition. Dieser tatsächlich ein bisschen revolutionierte Ressortzuschnitt ist sowohl eine Folge vernünftiger Modernisierungsabsichten als auch des Interessenausgleichs bei den Koalitionsverhandlungen, bestätigen der Grüne Adams und Staatskanzleichef Hoff. Adams verteidigt ein „Migrationsministerium, wo es noch Justiz gibt“, Hoff hält Kombinationen wie Arbeit und Soziales, Wirtschaft und Wissenschaft oder Umwelt und Energie für sehr zukunftsfähig.

Nicht nur am Katzentisch

„Wer hätte gedacht, dass die ersten 100 Tage so reibungslos laufen“, klopft sich Andreas Bausewein trotz des fortbestehenden Dilemmas für seine SPD auf die Schulter. Denn der Koalitionsjuniorpartner hat sich vom Verlust eines Drittels seiner Wählerstimmen 2014 erwartungsgemäß noch nicht erholen können. Die junge Susanne Hennig-Wellsow, die man eher zu den Systemveränderern in der Thüringer Linken zählte, wirkt wie Ramelow beherrscht und pragmatisch. Sie spricht von „umtriebiger Gelassenheit“ im neuen Bündnis. Das konstruktive Klima der Koalitionsverhandlungen, das dem anderen auch seine Erfolge gönnt, hält offenbar an. Die Grünen sehen sich jedenfalls nicht in einer Vermittlerrolle, sagt Adams. Und im Bundesrat hockt Bodo Ramelow keineswegs nur am Katzentisch der SPD-geführten A-Länder. „Keiner ist so blöd, mit uns nicht zu reden“, versichert Benjamin Hoff. Mit seinem sächsischen Kollegen Fritz Jaeckel bereitet der Staatskanzleichef sogar ein Gipfeltreffen von Ramelow mit seinem sächsischen CDU-Kollegen Stanislaw Tillich vor, um das distanzierte Verhältnis zu entkrampfen.

Diese Koalition ist zum Erfolg verurteilt, erklären in beachtlicher Übereinstimmung SPD-Landeschef Bausewein und sein CDU-Kollege Mohring. Bausewein erwartet sogar ein Zusammenrücken, „weil jeder weiß, dass es auf ihn ankommt“. Mohring zieht daraus den noch beachtlicheren Schluss, dass sich die Union auf fünf Jahre Opposition einstellen solle. „Ich rate meiner Partei, diese Rolle beherzt anzunehmen“, zieht der Oppositionsführer als CDU-Bilanz der ersten 100 Tage.

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