Mehr als ein Justizirrtum

Gutachten Der Afrikaner Oury Jalloh starb in einer Polizeizelle. Die These von der Selbstentzündung wird immer unhaltbarer
Ausgabe 47/2013

Sie haben den deutschen Behörden und der deutschen Justiz von Anfang an misstraut, die Mitglieder der Gedenkinitiative an Oury Jalloh. Der Afrikaner verbrannte im Januar 2005 in einer Dessauer Polizeizelle. „Das war Mord!“, riefen die Aktivisten bei den Prozessen gegen zwei mutmaßlich beteiligte Polizisten in Dessau und Magdeburg. Auf ihren Plakaten standen die gleichen drei Worte. Vor einem dritten Prozess ergriffen sie selbst die Initiative und gaben ein eigenes Brandgutachten in Auftrag. Und das bringt die bislang vorherrschende These von einem Selbstmord Jallohs tatsächlich ins Wanken.

Freunde hätten ihnen geraten, einen Gutachter aus dem Ausland zu bestellen, berichtete Mouctar Bah, ehemals enger Freund von Jalloh, bei der Vorstellung des Gutachtens in der vorigen Woche. Dennoch habe man zunächst versucht, deutsche Experten zu konsultieren, unter anderem in Köln. Sie lehnten jedoch durchweg ab. Die Aufgabe übernahm schließlich der aus Weißrussland stammende und im irischen Waterford lebende Maksim Smirnou. Er hat sich nach eigenen Angaben seit zehn Jahren mit der Untersuchung von bislang 300 Brandfällen befasst.

Geprägt von dubiosen Annahmen

Das Gutachten erschüttert die Annahme, dass Oury Jalloh die Matratze einer Zelle im Keller des Polizeireviers Dessau selbst angezündet haben soll. Gestützt wurde diese Theorie bislang auf ein ominöses Feuerzeug und die Tatsache, dass der aus Sierra Leone stammende Immigrant am frühen Morgen des 7. Januar 2005 nach angeblicher Belästigung von Frauen stark alkoholisiert aufgegriffen wurde. Revierleiter Andreas S. war vor einem knappen Jahr wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe von 10.800 Euro verurteilt worden. Vorgeworfen wurde ihm lediglich, seine Aufsichts- und Obhutspflichten verletzt zu haben.

Wie aber sollte sich der Afrikaner, an Händen und Füßen auf der Pritsche fixiert, selbst angezündet haben? Auf einer feuerfesten Matratze in einer leeren gekachelten Zelle? Mit diesen Fragen schienen sich sowohl Amts- als auch Landgericht arrangiert zu haben. Auch ein externer Zellennachbau und eine Simulation der wahrscheinlichen Ereignisfolge brachten keine neuen Erkenntnisse zur Brandursache. „Wirklich aufgeklärt wird der Fall vermutlich nie“, schrieb deshalb eine Magdeburger Tageszeitung nach dem Urteil im Berufungsprozess, gegen das inzwischen sowohl Staatsanwaltschaft als auch Verteidigung Revision beantragt haben.

Experte Smirnou ging nun offenbar weitaus systematischer vor. Ein Schweinekadaver musste den menschlichen Körper simulieren. Es zeigte sich zunächst, dass ohne Brandbeschleuniger ein Ausbrennen des Matratzenschaumstoffs nur bei nahezu vollständiger Entfernung der Matratzenhülle möglich war. Selbst bei Einsatz eines Brandbeschleunigers, getestet wurden hier immerhin bis zu fünf Liter Benzin, konnten keine so vollständigen Verbrennungserscheinungen an Matratze und Körper beobachtet werden wie an jenem Januartag in der Zelle 5 des Polizeireviers. Der Gutachter folgert, dass damals auf jeden Fall ein Brandbeschleuniger im Spiel gewesen sein muss, ohne den auch nicht die tatsächlich beobachtete starke Entwicklung schwarzen Rauches aufgetreten wäre. Und er vermutet, dass die Matratze manipuliert gewesen sein müsste, um eine derartige Brandwirkung zu erzielen.

Feuerzeug ohne DNA-Spuren

Der Gutachter weist außerdem auf Widersprüche hin zwischen dem Ort, an dem der Brand angeblich ausgebrochen sein soll, und der Stellung, in der die Leiche gefunden wurde. Eine gravierende Ungereimtheit sieht er darin, dass bei der Obduktion des Leichnams im Urin nicht das erwartete Stresshormon Noradrenalin nachgewiesen wurde, das in Panik auf jeden Fall ausgeschüttet würde. „Oury Jalloh war bei Ausbruch des Brandes schon nicht mehr bei Bewusstsein“, formuliert Smirnou daher seine schwer wiegende Hypothese. Ein erst bei einer zweiten Autopsie festgestellter Nasenbeinbruch hatte bereits während der Ermittlungen Fragen aufgeworfen, die nicht beantwortet wurden.

Smirnou stellt auch infrage, ob die Liste der sichergestellten Gegenstände korrekt geführt wurde. An dem Feuerzeug befanden sich weder DNA-Spuren des Opfers noch Spuren der Kleidung. Es sei „wissenschaftlich ausgeschlossen, dass dieser Feuerzeugrest jemals in Kontakt mit Oury Jalloh oder der Matratze war“, behauptet der Brandexperte.

Die Jalloh-Gedenkinitiative und sechs Einzelpersonen haben auf der Basis dieses Gutachtens Strafanzeige beim Generalbundesanwalt Harald Range gestellt – gegen unbekannte Polizisten, wegen Totschlags oder Mordes. Geschickt haben sie Range nicht nur das Gutachten, sondern auch eine Aufzählung verschwundener oder manipulierter Beweismittel und widersprüchlicher Zeugenaussagen in den Prozessen.

Die Justiz zeigt sich betroffen

Sie kritisieren insbesondere, dass in den bisherigen Verfahren die Möglichkeit ausgeschlossen wurde, dass sich Dritte einen Zugang zum Zellentrakt verschafft haben könnten. „Aber Dritte müssen mitgewirkt haben“, erklärt Initiativensprecher Thomas Ndindah. Dass sich die Anzeigenerstatter an den Generalbundesanwalts gewandt haben, begründen sie damit, dass es sich „im vorliegenden Fall um eine besonders schwere Straftat mit Bezug zur inneren Sicherheit und Verfasstheit der Bundesrepublik Deutschland handelt, da die zu ermittelnden Täter notwendigerweise exekutive Amtsträger des Bundeslandes Sachsen-Anhalt sein müssen“. Dessen Justizorgane hätten neun Jahre lang eine rechtsstaatliche Aufklärung des Falles boykottiert.

Ein Vertreter dieser Justiz, der Dessauer Oberstaatsanwalt Folker Bittmann, zeigte sich sichtlich betroffen. Es handele sich um „sehr ernste, überraschende und zum Teil erschreckende Informationen“, kommentierte er die neuen Erkenntnisse. Ohne Brandbeschleuniger seien offenbar die im Revier protokollierten Zeitabläufe nicht realistisch. Die Polizeibeamten hatten ein erstes Anschlagen des Rauchmelders ignoriert, angeblich weil dieser häufig fälschlicherweise Alarm schlage. Das werde schon seit längerem geprüft, erklärte Staatsanwalt Bittmann. Wenn es konkrete Anhaltspunkte für ein Fremdverschulden gebe, müsse man sie aufgreifen.

Nicht der einzige ungeklärte Todesfall

Genau diese Wiederaufnahme der Ermittlungen fordern Linke und Grüne im Landtag von Sachsen-Anhalt. Die Linken-Innenpolitikerin Gudrun Tiedge verlangte außerdem ein Ende der „Kriminalisierung und Diskreditierung der Initiative und aller kritischen Prozessbegleiter“. Und ihr Kollege Sebastian Striegel von den Grünen erwartet vom Bundesgerichtshof, dass er über die beantragte Revision im Licht dieser neuen Erkenntnisse entscheidet.

Darauf setzen die Freunde des Opfers schon lange nicht mehr, was nicht nur an der Bestellung eines internationalen Gutachters deutlich wird. Sie erinnern daran, dass 1997 und 2002 in diesem Dessauer Polizeirevier bereits zwei Männer an inneren Verletzungen und an einem Schädelbasisbruch starben – unter ähnlich ungeklärten Umständen.

Michael Bartsch schrieb im Freitag zuletzt über den Dresdner Jugendpfarrer Lothar König


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