Sehnsucht nach früher

Sachsen Die AfD steht schon vor den Landtagswahlen als Gewinnerin da. Rational ist das kaum mehr erklärbar
Ausgabe 33/2019

Einen Erfolg hat die AfD schon weit vor den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen erzielt. Medien ergehen sich in Spekulationen über einen möglichen Sturz von Ministerpräsident Michael Kretschmer, der in einem Dominoeffekt auch die Bundes-CDU und vor allem ihre eher piefige als pieksige Spitze rasieren könnte. Wegen der starken AfD könnte eine Regierungsbildung im Dresdner Herbst sehr kompliziert werden. Die Bundesrepublik starrt wie gebannt auf das blaubraune Gespenst, das da umgeht.

Die so genannte Alternative, der auch die meisten ihrer Wähler gar keine realpolitische Alternative zutrauen, schwebt schon jetzt siegestrunken dicht unter dem blauen Himmel dahin. Nach stabilen Umfragewerten will jeder vierte Sachse am 1. September AfD wählen. Das seit der Bundestagswahl 2017 anhaltende Kopf-an-Kopf-Rennen mit der 29 Jahre im Freistaat herrschenden Union könnte knapp zu ihren Gunsten ausgehen. „Sächsische Wähler erwarten, dass wir regieren“, verkündete selbsteuphorisierend der Landesvorsitzende und Spitzenkandidat Jörg Urban – schon am 24. Juni. Unter dem Motto „Auf dem Weg zur stärksten Fraktion“ hatte er Berliner Hauptstadtjournalisten eingeladen, um die Agenda für die ersten 100 Tage vorzustellen, bis hin zur konkreten Aufteilung der Ministerien. Die Umfragen lassen sie das sprichwörtliche Fell des Bären schon verteilen, bevor er erlegt ist.

Weder der Klimawandel noch die im „Sachsen-Monitor“ ausgewiesene hohe Lebenszufriedenheit der Sachsen noch die Radikalisierung der Partei haben diesem Hoch seither geschadet. Auf der anderen Seite hat das an der physischen Verschleißgrenze fahrende Engagement Michael Kretschmers nicht verhindert, dass die bis 2004 von absoluten Mehrheiten verwöhnte Sächsische Union seit seinem Amtsantritt im Dezember 2017 stetig weiter unter die 30-Prozent-Marke sinkt.

Kretschmer will zuhören, glaubt an die heilende Wirkung des Dialogs. Er bekam mangelnde Bodenhaftung und verschlafenen Problemstau ja auch als Erklärung für den Vertrauensverlust speziell in die Union zu hören, von Kommunalpolitikern, von der Parteibasis und erst recht von den Motzkis auf der Straße. Auf den Generalvorwurf eines angeblichen Linksrucks der Merkel-CDU antwortete Kretschmer, bis zu seinem Wechsel in die Staatskanzlei als CDU-Generalsekretär für die Parteilinie verantwortlich, nicht mit einem eindeutigen Schwenk nach rechts. Die Strategie lautete vielmehr nun „Mit dem Gesicht zum Volke“. Der Ministerpräsident und sein Kabinett reißen sich gleich drei Beine aus, reisen in Städte und Dörfer, die Staatskanzlei entwickelte das Format der „Sachsengespräche“. Die Hauptkorrektur der CDU-Agenda bestand in der Wiederentdeckung der ländlichen Räume, eine Abkehr von der Leuchtturmpolitik des „Ex-Königs“ Kurt Biedenkopf.

Doch die erwünschte Wirkung blieb aus. Zum einen blieb man auch bei diesen Dialogangeboten meist in seiner Blase, wie aus Kretschmers Entourage bestätigt wird. Es erscheinen die Dialogfähigen, nicht die frustrierten Meckerer, Highlights wie die jugendliche Klimakonferenz in der Staatskanzlei ausgenommen. Zum anderen versucht die Sächsische Union, mit realpolitischen Zielen einem Phänomen der irrationalen Politikverdrossenheit zu begegnen. Die grobe Formel „Mehr Lehrer, mehr Polizisten, schnelles Internet auf dem Land“ soll es richten.

Doch die, die tatsächlich vorwiegend in „abgehängten“ Regionen zur AfD überlaufen, klagen gar nicht so sehr über rational beschreibbare Infrastrukturprobleme. Brüche und Traumata der Nachwendejahre zeigen Spätfolgen bei der AfD-typischen Generation, die ihre Biografien nicht mehr korrigieren kann. Überforderungen mit der neuen Freiheit werden deutlich, die Sehnsucht nach der wohlgeordneten, wenn auch abgeschotteten Welt von früher.

„Die Zumutung weiterer Transformationsprozesse wie in der Kohle-Lausitz löst Ängste aus“, beschreibt der AfD-Finanzpolitiker André Barth treffend Gründe für die Erfolge seiner Partei. Das Ost-Bashing spiele ebenso eine Rolle wie die nachwirkende Erfahrung, dass man 1989 ein Regime stürzen konnte. „In der DDR wurde man sozialistisch, aber auch nationalistischer erzogen“, fügt Barth eine weitere Erklärung hinzu.

Diese Gefühlswelt hat die sächsische SPD im Bundestagswahljahr 2017 als neue „Kümmererpartei Ost“ schon einmal vergeblich zu bedienen versucht. Integrationsministerin Petra Köpping reiste wie später ihr Regierungschef auch in Orte, wo Großbetriebe von der Treuhand liquidiert wurden, besuchte nach DDR-Recht geschiedene und bei der Rente benachteiligte Frauen.

Doch Erfolg mit ihrer Ansprache hat nur die alles Protestgegrummel kanalisierende AfD. Mit ihrer Wahlkampagne stellt sie selbst geläufige NPD-Demagogie noch in den Schatten. Plakate wie „Vollende die Wende“ oder „Wende 2.0“ appellieren an Revolutionsromantik, der Slogan „Hol Dir Dein Land zurück“ ist offen antidemokratisch.

Ministerpräsident Michael Kretschmer distanziert sich bei jeder Gelegenheit von dieser AfD. Dabei setzt er sich weniger mit Inhalten auseinander als mit dem „unappetitlichen“ Stil der Nationalisten. Zumindest die CDU-Parteispitze grenzt sich inzwischen deutlicher ab, auch Landtags-Fraktionschef Christian Hartmann, der eine Koalition mit den Dunkelblauen zunächst nicht ganz ausgeschlossen hatte.

Doch bei Akademikern und Linken verstärkt sich wieder die Befürchtung, die Union könnte nach der Wahl der Versuchung erliegen, doch eine Liaison mit der AfD zu wagen. Einen Grund für diese Annahme liefern nüchterne rechnerische Überlegungen. Eine Koalition demokratischer Parteien jenseits der AfD müsste von mindestens drei, womöglich sogar vier Partnern gebildet werden. Die Linke scheidet als Partner der CDU aus, die Grünen sind bei der konservativen sächsischen Union herzlich unbeliebt, der bisherige Partner SPD rangiert derzeit nur einstellig.

„Je mehr Koalitionäre, desto mehr Stillstand“, warnte Landtagspräsident Matthias Rößler (CDU), und man hörte die Nachtigall trapsen. Der frühere „Patriotismusbeauftragte“ der Sachsen-CDU hatte den geschassten Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen in seinen Wahlkreis an der Elbe bei Dresden eingeladen, und dessen Auftritt geriet zu einer Wahlveranstaltung der zahlreich im Publikum vertretenen AfD. Solche Auftritte rufen Initiativen auf den Plan, die vor Schwarz-Blau warnen. Das Bündnis „Zukunft Sachsen“ fordert dazu auf, nach taktischer Überlegung CDU, SPD oder Grüne zu wählen, um eine AfD-Regierungsbeteiligung zu verhindern. Die zunächst vorwiegend von Leipziger Wissenschaftlern und Bildungsvertretern getragene Inititiative „#wirstreiken“ droht gar für den Fall solcher Koalitionsverhandlungen Streiks an.

Unklar ist, wie groß das Potenzial sächsischer Unionsfreunde ist, die in der AfD nur die „getrennten Brüder“ von einst sehen. Drei Viertel der 60 Direktkandidaten der CDU lehnen nach einer Umfrage von „Zukunft Sachsen“ ein schwarz-blaues-Bündnis zwar ab. Aber der ultrakonservative Landtagspräsident Rößler fällt mit der AfD-Show Maaßens jetzt schon Ministerpräsident Kretschmer in den Rücken. „Ich hätte ihn nicht eingeladen“, raunt Generalsekretär Alexander Dierks.

Doch eigentlich kann sich die ohnehin geschwächte Sächsische Union die für den Fall einer AfD-Liaison gewisse Spaltung nicht leisten. Ganz abgesehen davon, dass Michael Kretschmer seine Glaubwürdigkeit und seine derzeit hervorragende Popularität bei zwei Dritteln der Sachsen einbüßen würde. Eine personelle Alternative für den Ministerpräsidenten ist nicht in Sicht. Und dass sich die Union einem Major-Partner AfD unterordnen würde, erscheint bei der immer noch latenten Platzhirschmentalität erst recht unwahrscheinlich. Den eigenen Führungsanspruch aber hat die AfD bislang zur Bedingung für eine mögliche Koalition gemacht.

Wie im Bund regen sich spät auch in Sachsen Überlegungen für eine rot-rot-grüne Regierungsalternative. Sie kommen bislang nur aus der zweiten Reihe, von einem Leipziger Bündnis „Sachsen #umkrempeln“ beispielsweise. Mit einer schwächelnden Linken, einer schwachen SPD und mit wahrscheinlich nur bis zur 12-Prozent-Grenze aufsteigenden Grünen aber käme R2G nach Thüringer Muster nicht einmal auf 40 Prozent Wählerstimmen. Linken-Spitzenkandidat Rico Gebhardt ist zwar ein umgänglicher Typ, brächte aber als Führungsfigur eines solchen Bündnisses auch nicht das Format des Thüringers Bodo Ramelow mit.

Kleine Parteien könnten nicht nur für einen besonders bunten Landtag sorgen, sondern auch bei Koalitionsverhandlungen mitmischen. Die FDP könnte es nach fünf Jahren Absenz wieder schaffen. Knapp vor der Fünf-Prozent-Hürde stehen auch die Freien Wähler, mittlerweile ein Auffangbecken für Politiker verschiedenster Couleur, die aus Parteien wie den Grünen, der FDP, der Linken und gar von Pegida herausgedriftet sind.

Der Sächsische Verfassungsgerichtshof hat die spektakuläre Entscheidung des Landeswahlausschusses korrigiert, wegen Formfehlern nur die ersten 18 Kandidaten der AfD-Liste zuzulassen. Nun dürfen immerhin 30 antreten, die nach dem gleichen Wahlverfahren nominiert wurden, etwa die Zahl möglicher Landtagsmandate der AfD. Damit ist der Kampf um Direktmandate etwas entschärft und der AfD zugleich der propagierte Opferbonus genommen worden. Wahlkreisbündnisse nach dem Modell der Görlitzer Oberbürgermeisterwahl vom Juni „Alle gegen die AfD“ waren im Landtagswahlkampf ohnehin nicht in Sicht. Auf jeden Fall steht Sachsen die spannendste Wahl seit 1990 bevor.

Michael Bartsch arbeitet als freier Journalist und Autor in Sachsen

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