"Zulieferbetriebe" für Parlamentsentscheidungen

RUNDE TISCHE Sie sind in Ost und West mehr als ein Relikt der Wendezeit

Sind Runde Tische ein "Übergangsmöbel, das in die Ecke gestellt gehört", wie der aus dem Neuen Forum kommende Werner Schulz, heute bündnisgrüner Bundestagsabgeordneter, sagt? Der Fribourger Finanzwissenschaftler Professor Guy Kirsch schrieb in der FAZ 1996 gar von einem "gefährlichen Möbel", mit dem die Politik einen Teil ihrer Verantwortung deponiere, ohne Verbindlichkeiten einzugehen. Oder wären sie eher ein "Zukunftsmöbel", wie die Dresdner Sozial- und Frauenarbeiterin Gabriele Feyler behauptet?

Als am 7. Dezember 1989 erstmals der Zentrale Runde Tisch in Berlin zusammentrat, kreierte er keinesfalls eine Weltneuheit. Schon an der legendären Tafelrunde des Keltenkönigs Artus im sechsten Jahrhundert war "keiner mehr wert als der andere". Der Begriff der "Roundtable-Konferenz" fand sich zwar nicht im politischen Wörterbuch des Dietz-Verlages. Geläufig aber war diese Form des Krisenmanagements längst, bevor 1989 in Polen die wankende sozialistische Regierung ihre Macht durch einen Runden Tisch zu stabilisieren suchte. Schon im Frühjahr 1989 hatte die Initiative für Frieden und Menschenrechte auch für die DDR einen solchen Tisch vorgeschlagen. Geradezu inflationär vermehrten sie sich Ende November/ Anfang Dezember in den Gemeinden und Kreisen der DDR, bevor Demokratie jetzt und die Kirchen zur Teilnahme an einem Zentralen Runden Tisch riefen.

Über die Einordnung und Bewertung dieses am 12. März 1990 vor den Volkskammerwahlen wieder aufgelösten Tisches besteht zwischen verschiedenen Buchautoren, Wissenschaftlern und aktiven Politikern weitgehende Übereinstimmung. Wie die regionalen Gremien auch, verschaffte er den Bewegungen des Aufbruchs Einfluss, institutionalisierte den sogenannten "Dialog" und füllte ein Machtvakuum bis hin zur Beteiligung an der "Regierung der nationalen Verantwortung" unter Hans Modrow. In dieser Form war er tatsächlich ein Möbel des Übergangs zur frei gewählten Repräsentanz. Dass er damit allerdings nur "Vorschule der Demokratie" blieb, wie der Politologe Uwe Thaysen 1990 behauptete, wird vor allem von den Anhängern des Rund-Tisch-Prinzips bestritten. Bis heute anhaltende Neugründungen selbst landesweiter Runder Tische sprechen dafür, dass dieses einmal erprobte Möbel einen Stammplatz, zumindest im Foyer des Hauses der Demokratie behauptet.

Es sind vor allem themenbezogene Runden, die ergänzend zu Legislative und Exekutive Wirklichkeit reflektieren. So sieht es Ulrike Poppe, damals für Demokratie Jetzt am Zentralen Runden Tisch, und nennt drei Kriterien für ihr Funktionieren: Zielorientierung, Verknüpfung von Interessengruppen und Mediation. Sachsens Landtagspräsident Erich Iltgen, vor neun Jahren Moderator des Runden Tisches des Bezirks Dresden und des Sächsischen Forums, spricht vom Agieren im "vorpolitischen Raum". Runde Tische, die nur administrative Ersatzfunktion ausübten, lösten sich bald auf oder widmeten sich um. In Dresden beispielsweise entstand so ein deutschlandweit einmaliger Arbeitslosenbeirat, den allerdings die neue bürgerliche Stadtratsmehrheit im Herbst dieses Jahres wieder liquidierte. Aus dem frauenpolitischen Runden Tisch der Stadt wurde das "Sächsische Frauenforum". Von ihm wiederum ging 1995 der landesweite Runde Tisch "Frauen und Erwerbsarbeit" aus. Ein Versuch, der Chancengleichheit von Frauen am Arbeitsmarkt eine gewichtigere Stimme zu verleihen. Bei den eingeladenen Vertretern der Regierung sei man anfangs auf Ablehnung gestoßen, berichtet Forums-Vorsitzende Hansi-Christiane Merkel. "Runde Tische stellen aber einen Wert an sich dar", zumal bei frauenpolitischen Themen kommen sie dem Gleichstellungsideal entgegen. Repräsentieren eine, von Wolfgang Ullmann so benannte, "Zirkularperspektive". Öffentliche Beachtung hat sich der Runde Tisch "Frauen und Erwerbsarbeit" in Sachsen erworben. Ihm ist die Einrichtung von fünf Regionalstellen "Frau und Beruf" in der sogenannten "Innovations- und Arbeitsmarktoffensive" des Wirtschaftsministeriums gelungen.

Idealismus ist vonnöten, zumal wenn der Runde Tisch immer ovaler zu werden droht. Vertreter einer mit absoluter Mehrheit regierenden Partei, wie der CDU in Sachsen, sind nicht motiviert, sich dauerhaft an einem parallelen, beratenden, aber letztlich machtlosen Gremium zu beteiligen. Auf die Gefahr der Verkürzung zu einer Oppositionsrunde bei solchen "von unten" initiierten Tischen weist auch André Hahn hin, Autor einer in Buchform erschienenen Doktorarbeit über den Zentralen Runden Tisch und seit 1994 parlamentarischer Geschäftsführer der PDS-Fraktion im Sächsischen Landtag. Die Initiative für Demokratie, Toleranz und Gewaltlosigkeit in Halle sieht das ähnlich. "In Runden Tischen findet sich bis heute eine bestimmte Klientel. Leute, die mehr wollen als andere, nicht unbedingt Repräsentanten des Volkes also", meint Johannes Krause vom initiierenden DGB. Zugleich sieht er in dieser Klientel, typischen Multifunktionären, eine Chance für die Übersetzung von Rundtisch-Forderungen in wirksame Entscheidungsgremien. Aber "Runde Tische tragen das Stigma der Unverbindlichkeit." Unter anderem deshalb werden auch die Kanzlergespräche mit Arbeitgebern und Gewerkschaften zu Arbeitsmarktfragen atta ckiert. Die modischen "Bündnisse für Arbeit" sind im Grunde auch nichts anderes als Runde Tische.

Glaubt man allerdings den Industrie- und Handelskammern und der Deutschen Ausgleichsbank, dann sind durch Runde Tische nach Konkursen schon tausende Arbeitsplätze in Ostdeutschland gerettet worden. Sachsens Landtagspräsident Erich Iltgen sieht allerdings die Frage der Verantwortungsübernahme bei der Durchsetzung von Rundtisch-Beschlüssen ungelöst. Übrigens auch bei Volksentscheiden, deren Ergebnis sich als praktischer Irrtum herausstellen sollte. Und wirft die Legitimationsfrage auf. Runde Tische mandatieren sich selbst und sind bestenfalls moralisch rechenschaftspflichtig. Ebenso deutlich bekennt sich Iltgen aber zur unverändert aktuellen Bedeutung Runder Tische. "Für die Erfassung der unterschiedlichsten gesellschaftlichen Probleme reichen Parteistrukturen nicht aus." Die Problemspiegelung könne eine "gute Unterstützung für politische Entscheidungsträger" sein.

Ein geradezu klassisches Phänomen, dem Politik bislang weitgehend hilflos gegenüberstand und das sie bestenfalls repressiv angehen konnte, ist das der Gewaltbereitschaft. Und so rief Iltgen Anfang 1992 selbst einen "Runden Tisch gegen Gewalt" ins Leben, der bis heute regelmäßig tagt. Die ausländerfeindlichen Anschläge von Hoyerswerda lösten in vielen Städten Betroffenheit aus. Runde Tische erschienen als das probate Mittel, sich mit gärenden Aggressionen und Animositäten auseinanderzusetzen. In Hoyerswerda selbst, in Cottbus, Schwedt, Guben, Spremberg, Eberswalde, Naumburg beispielsweise entstanden solche Foren. "Der Runde Tisch war anfangs politisch nicht erwünscht", erinnert sich der moderierende Pfarrer Peter Krüger aus Cottbus. Dennoch gelang es, Justiz, Polizei, Stadtrat und zumindest die linken Parteien an den Tisch zu bekommen. "Auffällig war, dass die Lehrer fast immer fehlten." Nach etwa fünf Jahren sei die Runde "eingeschlafen", so Pfarrer Krüger. Aber in den letzten beiden Jahren gäben rechtsextreme Aktivitäten wieder Anlass zur Sorge. Grund für die Staatskanzlei Sachsen-Anhalt, nach den verheerenden 12,9 Prozent für die DVU bei den Landtagswahlen 1997, "von oben" einen Runden Tisch für ein "demokratisches und weltoffenes Sachsen-Anhalt" ins Leben zu rufen. Den gleichen Untertitel trägt ein neuer Verein "Miteinander", der auch Projekte und regionale Zentren fördert. "Das Problem Rechtsextremismus ist nicht allein durch staatliches Handeln zu lösen", mein Cornelia Habisch vom Presseamt der Landesregierung in Magdeburg. Sie hat das Handlungskonzept erarbeitet, auf dessen Basis seit Sommer 99 der Verein, ein Netzwerk, ein Mobiles Unterstützungsteam bei aktuellen Konflikten und eine Informationskampagne arbeiten.

Neben den überall relevanten Themen Gewalt, Rechtsextremismus, Arbeit, Ausländer- oder Frauendiskriminierung hat es in den letzten Jahren zahlreiche Runde Tische zu lokalen Problemen gegeben: Braunkohleabbau, Schönefelder Flughafen, Verkehr in Halle, Arbeit im Mansfelder Land, Stadtentwicklung in Brandenburg, Abfallpolitik in Neubrandenburg oder Jugend und Kinder in Leip zig können stellvertretend angeführt werden.

Runde Tische sind aber kein Privileg der Ostdeutschen. In Lübeck entstand nach dem Brandanschlag auf die Synagoge 1994 ein Runder Tisch. In Herzogenrath bei Aachen organisierten Kirchen und der DGB ein "Forum der Arbeit" zur regionalen Strukturentwicklung. In Bonn traf sich seit 1990 mehrmals ein "Runder Agrartisch". Die Vorsitzende des Bundes für Umwelt und Naturschutz BUND, Angelika Zahrt, spricht vom Bemühen um einen "Nachhaltigkeitsrat". Er soll der Ableitung des Agenda-21-Prozesses der Umweltkonferenz von Rio auf Bundesebene verkörpern. Im Vorfeld der Solidarpakt-Debatten schlug sogar Sachsens Ministerpräsident im September 1992 einen Runden Tisch für das Zusammenwachsen Deutschlands vor. Im Kosovo tauchte der Begriff überraschend wieder auf, um das Zusammenleben im deutsch kontrollierten Teil zu organisieren.

Das jüngste praktische Beispiel kommt aus Magdeburg. Auf die Sozialministerin Gerlinde Kuppe (SPD) geht ein Runder Tisch zum Ladenschluß zurück. Wohl wissend, dass für eine Gesetzesänderung der Bund verantwortlich ist, soll der Runde Tisch eine solidere Basis schaffen. "Das ist keine Schwäche einer Politik, die nicht weiter weiß, sondern Stärke", "politisches Handeln wird durch diese Beratung nicht aufgehoben", sondern ergänzt.

Dass aber politisches Handeln selber stärker vom Geist der Runden Tische inspiriert sein müsste, halten viele Weiterdenkende für unverzichtbar. "Lösungen, unabhängig von Parteiinteressen und Fraktionszwängen, werden immer dringender", meint Inge Burkhardt von der Halleschen Initiative. Sie sieht Runde Tische als "Zulieferbetriebe" für die oft viel zu langsamen Parlamente, deren Erkenntnishorizont begrenzt erscheint. Erhard Otto Müller vom "Forum Bürgerbewegung" im Berliner Haus der Demokratie findet: "Eigentlich wäre ein Runder Tisch aller Parteien zur Rentenfrage dringend notwendig". Nichts anderes gilt für die Zukunft der Arbeitsgesellschaft.

Knackpunkt ist die Verzahnung der informellen Ebene mit der politischen Entscheidungsebene. Dazu wäre ein Vorschlags- und Rederecht in Parlamenten und Ausschüssen nötig, sowie unter Umständen ein Vetorecht bei Gesetzesberatungen, wie es auch die Frauen vom sächsischen Runden Tisch bei sie betreffenden Fragen wünschen.

Das könnte, so Heiko Lietz aus Güstrow, Initiator und Moderator mehrerer Runder Tische und für die Bündnisgrünen im Kreistag, das Beteiligungsmodell der vielbeschworenen Bürgergesellschaft schlechthin werden. Der kommunale Agenda-21-Prozess ist ja im Sinne Runder Tische angelegt. "Ein intelligentes Politikmodell, das wir uns angewöhnen müssen oder wir gehen unter", spitzt er zu. Die affektierte Rechthaberei der meisten Parlamentsdebatten erscheint nicht nur Befürwortern von Runden Tischen als antiquiert.

Den Parlamentarismus, den Karl Kraus in seinen Aphorismen als die "Kasernierung der politischen Prostitution" geißelte, will deshalb niemand abschaffen. Nicht nur bei den Linksparteien setzt sich aber allmählich die Erkenntnis durch, dass der Vertrauensschwund in die Demokratie nicht mit Wahlakten alle vier oder fünf Jahre überwunden werden kann. Es bedarf, jenseits des Lobbyismus, feinerer Verbindungsfäden in den vor- oder außerparlamentarischen Raum, sensibler Antennen. Als "Sender" könnten Runde Tische eine Zukunft haben.

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